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Torstraße 1

Torstraße 1

Titel: Torstraße 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sybil Volks
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und einen Rückzieher machen. Aber dem war nicht so. »Und ist die Frau auch hier, damit ich sie kennenlernen kann?«, fragte sie und sah sich um, als könnte Elsa ganz in der Nähe stehen. »Die wohnt in Westberlin und war sozusagen meine … Kaufhausfreundin.« Die Frau nickte, als hätte das alles seine Logik, streckte die Hand aus und stellte sich vor. »Ich bin Elisa Wiedemann, aus Merseburg.« Und er hörte, was er vielleicht hören wollte: Elsa Wiedemann aus Merseburg. Das haute ihn um. Das haute ihn so um, dass er zum zweiten Mal innerhalb weniger Minuten ausgesehen haben muss, als hätte er nicht alle Tassen im Schrank. Und dann stammelte er, dass sie tatsächlich genauso hieße wie seine Kaufhausfreundin aus Kindertagen. Oder nicht genauso, denn nur der Vorname sei natürlich derselbe, aber auch das käme doch schon einem großen Zufall gleich, dass er erst gedacht habe, hier stünde Elsa und dann steht da eine Elsa. Als er zu Ende gestammelt hatte, lachte die Frau so laut, dass sich ringsum alle nach ihnen umdrehten. »Darauf müssen wir was trinken«, sagte sie und hakte sich bei ihm unter, als seien sie nun alte Bekannte. »Obwohl das Pünktchen auf dem i fehlt. Ich heiße nämlich Elisa.«
    Und diese Elisa hatte weit mehr als ein Pünktchen auf dem i zu bieten, und alles nahm rasant seinen Lauf. Er konnte sich nur noch wundern über sich selbst, wo er doch immer gedacht hatte, nach Karlas Tod wäre ihm die Sache mit den Frauen ein für alle Mal vergangen. Aber vielleicht hatte er sich das auch nur selbst verordnet und sich dabei immer gesehnt nach Zweisamkeit. Nicht weil die Lücke zu füllen war. Das geht ja nicht, eine Lückezu füllen, die jemand gerissen hat, indem er sich einfach davonmacht. Aus dem Leben schleicht. So hat er es damals gedacht, an jenem Tag, der sein Leben und das von Luise so verändern sollte.
    Bernhard steigt aus der Wanne, obwohl das Wasser noch immer eine angenehme Temperatur hat. Aber die Badewanne ist auch der Ort, wo er am meisten und am schlimmsten ins Grübeln kommt. Manchmal liegt er da, bis das Wasser kalt ist und die Haut geschrumpelt und bleich, sodass sie aussieht, als fiele sie ihm gleich vom Leib. In den ersten Monaten nach Karlas Tod war das wie eine Katatonie. Dieses Wort ist ihm mal untergekommen, er fand es treffend für vieles, nicht nur für seinen Badewannenzustand, und benutzte es in einem Kommentar über den Niedergang des Imperialismus. Heute weiß er nicht mehr, was der Anlass gewesen war, dass ausgerechnet er einen solchen Kommentar schreiben musste. Jedenfalls haben sie ihm das Wort Katatonie rausgestrichen, weil der Arbeiter so was nicht versteht. »Mein Vater versteht so was«, hatte er, schon im Rückzug begriffen, gesagt und die Antwort bekommen: »Dein Vater ist Genosse.«
    Also blieb das Wort seinem Badewannenzustand vorbehalten, der dadurch ausgelöst wurde, dass ihm immer und immer wieder die gleichen Bilder in den Kopf kamen. Wie er nach Hause fährt, nachdem Luise ihn in der Redaktion angerufen hat, um zu sagen, dass sie nicht in die Wohnung kommt, weil die Mutter die Tür nicht öffnet. Und sie wissen wollte, ob Karla angekündigt hatte, irgendwohin zu gehen. Hatte sie nicht, sie war krank, seit Tagen schon. Eine Krankheit, die mehr mit Schwermut als mit allem anderen zu tun hatte, aber immer auch mit Schmerzen in der Brust und im Rücken verbunden war. Gerade deswegen hatte er ja mit Luise besprochen, dass sie einen Überraschungsbesuch machen sollte. Um Karla aufzuheitern oder vielleicht sogar herauszuholen aus ihrem Zustand. Luise schaffte das manchmal. Sie hatte sich einen halben Tag freigenommen bei der Bezirksredaktiondes ADN in Potsdam und mitten in der Woche in den Zug gesetzt. Eigentlich lag ihr die Arbeit bei der Nachrichtenagentur nicht so, sie hätte lieber bei einer Zeitschrift gearbeitet. Aber das Volontariat beim ADN war ein Anfang, und er hatte Luise zugeraten.
    So kam sie also aus Potsdam angereist, stand vor der verschlossenen Tür und hatte den Einfall, bei der Nachbarin zu klingeln und deren Telefon zu benutzen. Heute glaubt er ja, dass ihm schon bei diesem kurzen Telefonat klar geworden ist: Etwas Schlimmes musste passiert sein. Karla verließ die Wohnung nicht, wenn sie in diesem Zustand war. Sie ließ sich in der Schule krankmelden, was immer öfter vorkam, die Kolleginnen und Kollegen mussten sie vertreten und nahmen es ihr übel. Sobald er zur Arbeit gegangen war, zog sie die Vorhänge zu und legte sich ins Bett.

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