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Torstraße 1

Torstraße 1

Titel: Torstraße 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sybil Volks
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sind oder einfach nur Faulheit, sich eigene Sätze zu bauen. Das Gekrickel und Gekrakel der Kollegin neben ihm wird immer hektischer, um dann mit einem rigorosen Strich von links oben nach rechts unten zu enden.
    Bernhard fasst einen Beschluss, während er dasitzt und Unsinn faselt wie alle anderen auch. Der Brief von Elisa, der Vater im Heim – die Gedanken spuken im Kopf und drehen sich im Kreis. Er braucht jemanden zum Reden, sonst fallen die Entscheidungen, auch wenn sie nicht getroffen werden. Und wie immer, wenn es ihm ans Herz und an die Nieren geht, denkt er an alle Frauen in seinem Leben, die ihm fehlen oder verloren gegangen sind. Also wird er heute Abend, auch wenn es spät wird, zu Luise nach Potsdam fahren.
    »… wird uns dabei unterstützen«, hört er das Ende eines Satzes, dessen Anfang ihm fehlt. Alle schauen ihn an, und er nickt sicherheitshalber. Und hofft, dass es hier um die gestern verabredete Hilfe bei der Bestarbeiterkonferenz geht und er nicht durch sein Nicken jetzt noch irgendwo eingeteilt ist, ohne es selbst zu wissen.
    »Jetzt brauchen wir noch was für Machmit«, sagt der Parteilebenkollege, auch wenn es nicht seine Aufgabe ist. »Fünfhundert Millionen Eigenleistungen zur Erhaltung des Wohnraums, da lässt sich doch was stricken.«
    Bernhard kann nicht mehr zuhören, nicht mehr mitmachen, allenfalls noch nicken und abnicken, und wenn er nachher hundert Bestarbeiterkonferenzen am Hals hat. Er lässt die Gedanken wandern und landet an dem Abend mit Elisa, als sie ihn imInstitut besuchte. So wie damals Elsa. Und auch wenn es ihm fürchterlich schäbig vorkam, hat er versucht, den Augenblick zu wiederholen. Im gleichen Raum neben der Bibliothek, in dem Elsa ihn und er Elsa verführt hatte und der noch genauso roch wie damals. Was immer es war, das Elisa und ihn in letzter Sekunde auseinandergetrieben hat, es ist Elisa gewesen, die die Notbremse zog. Sie wand sich aus seiner Umarmung und flüsterte ihm ins Ohr: »Nicht hier.« Als wüsste sie, dass dieser Ort einer anderen Frau, einer anderen Erinnerung vorbehalten war.
    Am Abend ruft der Kraftfahrer bei Bernhard an und sagt, er habe es noch mal so hinbasteln können, aber der Vorschalldämpfer würde es nicht mehr lange machen. Bernhard verspricht, sich um ein Ersatzteil zu kümmern und dass man demnächst mal einen zischen geht, als Dankeschön für die Hilfe und überhaupt. Er ist froh, mit dem Trabi nach Potsdam fahren zu können und nicht in den Sputnik steigen zu müssen. Obwohl er diese Doppelstockzüge mag, aber erst nach Schönefeld rauszujokeln, um von dort den Westen weiträumig zu umfahren, ist wirklich kein Spaß am Abend. Jetzt hat er nicht mal was zum Mitbringen für Luise, fällt ihm ein, doch um acht Uhr abends noch an etwas Nützliches, Brauchbares oder Schönes zu kommen, ist illusorisch.
    In Teltow und Kleinmachnow denkt er, was er immer denkt, wenn er hier durchfährt: Ob es nicht schöner wäre, hier zu leben, in einem dieser Orte. Früher ist er im Sommer manchmal mit Karla und Luise nach Kleinmachnow gefahren, um Freunde zu besuchen. Wenn sie zusammen im Garten saßen und grillten, fand Karla es immer so schön, dass sie sich beide vorstellen konnten, in einem solchen Doppelhaus zu leben. Illusorisch war das natürlich. Die Freunde hatten drei Kinder, und er war Offizier, galt als Arbeiterklasse. Hinzu kam die Arbeit seiner Frau, die in einem Schwermaschinenbetrieb Redakteurin derBetriebszeitung war. Alles passte für eine Doppelhaushälfte zur Miete in Kleinmachnow. Das hatte nicht mal was mit Beziehungen zu tun. Nun hat er die Freunde schon lange nicht mehr gesehen. Nach Karlas Tod noch ein, zwei Mal, dann schlief auch das, wie so vieles, ein. Eine tote Ehefrau macht einen doppelt und dreifach einsam. Die Leute können nicht damit umgehen, und man selbst weiß auch nicht, wie es gehen kann, die alten Freundschaften aufrechtzuerhalten, ohne immer aufs Neue in Trauer zu versinken.
    Luise ist zu Hause. Als Bernhard das Auto parkt, sieht er, dass in ihrem Zimmer Licht brennt. Das freut ihn so, als hätte er die Tochter monatelang nicht gesehen. Vor der Tür legt er eine kurze Denkpause ein, überlegt, ob es wirklich eine kluge Idee war, weiß es nicht und klingelt.
    Nicht Luise, sondern Uwe öffnet die Tür, stutzt einen Moment und ruft in die Wohnung: »Besuch für dich. Dein Vater.« Er zieht Bernhard am Jackenärmel in die Wohnung.
    »Ich komme unangekündigt, stör ich euch nicht?« Bernhard will nicht aus der

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