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Torstraße 1

Torstraße 1

Titel: Torstraße 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sybil Volks
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Wenn er heimkam, kochte er und besorgte den Haushalt. So lief das, und immer lief es gleich ab. Nie hat er begriffen, welchen Auslöser es brauchte, damit Karla sich wieder fing. Was dafür verantwortlich war, dass er eines Abends nach Hause kam und die Hausarbeiten der Schüler waren korrigiert, die Stunden für den nächsten Tag vorbereitet, die Wohnung war geputzt, der Tisch gedeckt und die Frau selbst gebadet und gecremt und fröhlich dazu.
    Nach Luises Anruf ist er so schnell es ging von der Redaktion nach Hause geeilt, die Treppen hoch und in die Wohnung gestürmt. Im Flur hat ihn der Mut verlassen, er stand einfach da und wollte das Leben, die Welt, die Zeit anhalten, während Luise an ihm vorbei ins Schlafzimmer lief. Erst bei dem Schrei seines Kindes ist er zu sich gekommen und hinterhergerannt in das Zimmer, wo Karla auf dem Bett lag. So verzweifelt und allein muss sie gewesen sein, dass ihr nicht einmal eingefallen war, in die Badewanne zu steigen.
    Bernhard steht wieder nackt vor dem Spiegel, der noch immer beschlagen ist an einigen Stellen. Aber jetzt ist hier kein Wilhelmmehr zu sehen, nur er in seinem kleinen Elend. Und wie ist er da gelandet? Durch einen ungelesenen Brief auf dem Küchentisch. Der ihn zurückführt zu einem anderen Küchentisch und einem gefalteten Blatt Papier. »Verzeiht mir, dass ich fort muss. Sucht mich nicht. Das Leben wird ohne mich leichter. Ich liebe euch, Martha.« Karla hat keinen Satz hinterlassen, keine Bitte um Verzeihung, keinen Rat. Keinen Grund, keinen Gruß. Nur ihren Körper, unübersehbar tot. Dieses Bild hat sie ihnen für immer vermacht, Luise und ihm. Das zerschnittene Fleisch, das Blut. Ihre toten Augen. Hat ihnen jede falsche Hoffnung erspart. Er zieht den Stöpsel aus der Wanne und sieht zu, wie das Badewasser träge abfließt.
    Elisas Brief ist voller Wehmut. Irgendwann ist ihm der Mut abhandengekommen für diese Beziehung und eine Entscheidung. Nun haben sie sich wochenlang nicht gesehen, er hat Dienste vorgeschoben, Termine, eine schwere Erkältung. Und ist sich jedes Mal wie ein Arschloch vorgekommen. Was ich ja auch bin, denkt er. Das hat Elisa nun wirklich nicht verdient. Und so steht es auch im Brief.
    »Das habe ich nicht verdient, Bernhard, dass du mich abspeist, als sei ich eine Nervensäge, der man zu viel versprochen hat. Schreib mir einfach, wenn du es ganz zu Ende bringen willst. Dann lassen wir es. Und finden unsere Ruhe. Vielleicht. Aber lass mich nicht so im Ungewissen, hörst du.« Das ist der erste Teil des Briefes, und eigentlich müsste er jetzt Schluss machen mit dem Lesen, sich hinsetzen und Elisa schreiben, was Sache ist. Aber genau das geht ja nicht. Er kann sich nicht entscheiden.
    »Letztes Wochenende bin ich nach Bad Dürrenberg gefahren und habe Salzluft geatmet. Wie wir beide zusammen im vergangenen Jahr, im Mai. Du hast gesagt, das Geräusch des tröpfelnden Wassers durch das salzige Reisig erinnert dich anetwas aus deiner Kindheit. Aber du wusstest nicht, was es war. Vielleicht ist es dir inzwischen eingefallen. Ich habe dich vermisst, als ich dort war und allein spazieren gegangen bin. Doch ich will dich nicht unter Druck setzen. Fast hätte ich bei unserem letzten Treffen gesagt, ich liebe dich, Bernhard, lass es uns versuchen. Nun bin ich froh, es nicht getan zu haben. Und traurig bin ich auch. Elisa.«
    Bernhard hört die Uhr in der Küche ticken, Mitternacht wird es sein, denkt er, ich sollte mich hinlegen und schlafen. Er geht zum Schreibtisch und holt einen Stift und den karierten Block, der da immer liegt. Setzt sich hin und schreibt einen Brief an Elisa. Viel ist nicht zu sagen. »Verlass mich nicht«, schreibt er, »ich bin ein Feigling, aber ich will nicht, dass du gehst. In zwei Wochen sind wir mit der neuen Zeitung durch. Richtig neu wird sie natürlich nicht, sieben Spalten auf jeder Seite und kein Orden mehr, der uns schmückt. Du wirst es ja sehen. Ich komme dann nach Merseburg. Und wir reden, Elisa.«
    Nun kann er sich endlich hinlegen und schlafen. Zumindest den Versuch unternehmen, denn es fällt ihm immer schwerer, zur Ruhe zu kommen. Seit Wilhelm im Altenheim ist, gehen ihm Abend für Abend die gleichen Dinge durch den Kopf. Dass er bald nicht mehr wird reden können mit dem Vater, dass es noch so viel zu sagen gäbe. Über ihrer beider Schicksal, die Frau verloren zu haben. Wie man damit umgeht und klarkommt und weiterlebt. Oder auch, ohne damit klarzukommen, weiterlebt. Zuerst konnte und wollte er Wilhelm

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