Torstraße 1
Bernhard sagt, dass er losmüsse, und bewegt sich keinen Zentimeter vom Fleck.
»Warum schläfst du nicht hier auf der Couch?«, will Uwe wissen und bietet an, schnell Bettzeug zu holen.
Luise schüttelt den Kopf. »Lass ihn fahren«, sagt sie und kämpft mit den Tränen.
Da hat es auch Uwe begriffen und geht zurück ins Bett. Bernhard holt seine Jacke, verheddert sich in den Ärmeln. Zieht umständlich die Schuhe an, bindet mit steifen Fingern die Schnürsenkel. Ohne Abschied fällt die Tür hinter ihm ins Schloss.
Dieselbe Tür, an die er ein paar Minuten später klopft. Luise öffnet so schnell, als habe sie die ganze Zeit dahinter gestanden. »Hab den Autoschlüssel vergessen«, murmelt Bernhard mit gesenktem Kopf und bleibt vor der Tür stehen. Dann schaut er Luise an. Ihr Gesicht ist verschwollen vom Weinen. »Ich bin ein sturer alter Knacker«, sagt er. »Und ich habe Angst um dich.«
Luise zieht ihn in den Flur, und er nimmt sie in den Arm. Erst steht sie ganz steif, wird langsam weicher und legt den Kopf an seine Brust. »So ist es hier«, sagt sie, »da reißt es am Ende noch die auseinander, die zusammengehören. Ich bin unglücklich in Leipzig. Ich quäle mich jeden Sonntagabend hin, Montag ist der schlimmste Tag von allen. Der beginnt morgens mit dem Seminar dialektischer und historischer Materialismus, und danach haben wir APA. Kennst du das noch?«
Bernhard nickt und schweigt. Aktuellpolitisches Argumentieren. Ob es schon damals APA hieß, weiß er nicht mehr, aber es ging auch bei ihnen nur darum, das Richtige zu sagen und keine Zweifel aufkommen zu lassen an dem, was im Zentralorgan stand, für das er nun schon so lange schreibt.
Luise zieht ihn noch einmal ins Wohnzimmer, gießt Wein in die Gläser und schaut ihm nicht in die Augen, während sie versucht zu erklären, was sie quält. Bernhard sieht erst jetzt, dass in dem wackligen Regal, das hier die obligatorische Schrankwand ersetzt, nur Bücher stehen. Kein Nippes, kein Radio, kein Fernseher, nur Bücher. Unsinnigerweise macht ihn das stolz, als sei es sein Verdienst, dass Luise nichts anderes braucht als Bücher.
»Vor zwei Wochen ist ein Kommilitone aus meiner Seminargruppe relegiert worden. Hieß das bei euch auch so?« Luise wartet seine Antwort nicht ab. »Wir haben alle, bis auf eine, die Hand gehoben, als darüber abgestimmt wurde. Zuerst wurde in der Parteigruppe abgestimmt und dann in der FDJ-Gruppe. Eine hat nicht mitgespielt und dagegen gestimmt. Eine. Es ging um Plagiat, aber eigentlich um Angst. Der Kommilitone hatte eine Arbeit abgeschrieben, zu großen Teilen zumindest. Man hat uns gesagt, das sei parteischädigendes Verhalten und eines FDJlers unwürdig. Als ob Angst mit dem Blauhemd verschwindet. Jetzt ist er weg, der Stephan. Ich hab auch für den Ausschluss gestimmt. Stell dir das mal vor. Ich habe über die ganze weitere Zukunft von jemandem entschieden, weil die Partei und die FDJ es so wollten. Dabei wusste ich, was der Grund für sein Handeln war. Die Angst eben. Der Druck.«
Bernhard gießt den Rest aus der Flasche in sein Glas. Bärenblut, ein fürchterliches Gesöff. Man sollte doch meinen, dass mit dem Sieg des Sozialismus wenigstens der Wein besser würde. Bei dem Gedanken muss er grinsen und wandelt das Grinsen in ein verlegenes Lächeln um, damit Luise nicht böse wird. Er kann nichts zu ihrem Unglück sagen. Nicht viel jedenfalls. Undschon gar nicht kann er sie darin bestärken, die Universität zu verlassen. »Luise«, sagt er, »es sind nur vier Jahre. Davon hast du die Hälfte schon hinter dich gebracht. Bitte, gib nicht auf. Beende das Studium, mach den Abschluss. Du musst doch nicht als Journalist arbeiten.«
»Journalistin«, verbessert Luise automatisch. So wie er wahrscheinlich bis an sein Lebensende Lehrer oder Journalist sagen wird, so sicher wird Luise ihn ebenso lange korrigieren. Doch jetzt geht es ihr um etwas anderes. »Du weißt, dass ich nach dem Studium drei Jahre lang meine Dankbarkeit beweisen muss«, sagt sie. »Die zentrale Einsatzkommission wird mich in irgendeine Redaktion stecken, wo ich diese Sätze schreiben werde, die vorn und hinten nicht stimmen. Und da komm ich auch nicht raus. Ihr habt mich schließlich so erzogen. Dass man dem Staat danken muss, wenn er was für einen tut. Also werde ich drei Jahre länger leiden, nach vier Jahren Studium. Wo soll das hinführen? Sag es mir.«
»Dann bekommst du eben Kinder mit deinem Uwe. Kümmerst dich erst einmal darum«, versucht er
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