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Torstraße 1

Torstraße 1

Titel: Torstraße 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sybil Volks
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nicht fragen, und nun ist es zu spät dafür. Gerade, dass Wilhelm sich noch an Martha erinnert. Wenn es ihm gut geht. Morgen gehe ich ihn besuchen. Gleich nach der Arbeit. Das ist der letzte Gedanke des Abends, und der tröstet Bernhard in den Schlaf.
    Wilhelm hat einen guten Tag. Als Bernhard ins Zimmer kommt, steht er zur Begrüßung auf und umarmt ihn. Sein Zimmergenosseliegt reglos im Bett und sagt kein Wort. Er könnte ebenso gut tot sein. Wilhelm zieht Bernhard aus dem Zimmer, runter in die Rabatten, wie er sagt. Dort fragt er als Erstes nach Zigaretten, und Bernhard hält ihm die Schachtel hin. »Alte Juwel«, sagt Wilhelm und strahlt. »Ist doch ein anständiges Kraut. Bist du umgestiegen?«
    »Gab nichts anderes, Club waren alle«, antwortet Bernhard, und Wilhelm rümpft die Nase. Club ist Intellektuellenzeugs, findet er, das raucht der Arbeiter nicht. »Ich bin doch auch kein Arbeiter«, hat Bernhard immer gesagt, wenn diese unsinnige Diskussion aufkam. »Dann rauch Karo, das ist auch für Intellektuelle angebracht«, hat Wilhelm oft geantwortet und im gleichen Augenblick angefangen zu lachen. Für Karo war sein Sohn wirklich nicht hart genug.
    Bernhard will wissen, wie es dem Vater geht, und der gibt erstaunlich bereitwillig Auskunft. Redet über das Essen, während die beiden auf der Bank eine paffen, über die anderen Alten und die Langeweile der Tage, die nicht vergehen.
    »Kannst du mich nicht zu dir nehmen?«, fragt er auf einmal.
    Bernhard ist völlig sprachlos. Wenn Wilhelm ihn um so etwas bittet und seinen Stolz überwindet, dann muss es hier schrecklich sein. Er legt dem Vater die Hand auf die Schulter. »Wir könnten es versuchen. Zur Probe für ein Wochenende. Und wenn es gut läuft, ziehst du bei mir ein.«
    Im Grunde seines Herzens ist ihm elend bei dem Gedanken. Er hat sich so mühevoll an das Alleinsein gewöhnt, und es wäre sicher nicht einfach mit dem Vater in der Wohnung. Wenn Elisa zu Besuch kommt zum Beispiel. Aber nun ist es gesagt, und Wilhelm sieht so froh aus. Vielleicht klappt es ja auch gar nicht, denkt Bernhard. Aber einen Versuch bin ich ihm schuldig. Mindestens das. Beim Abschied lehnt Wilhelm seinen Kopf an Bernhards Schulter.Am nächsten Tag ist der Himmel blau. Die Bäume sehen nach der windigen Regennacht gerupft aus, nasse Blätter kleben auf den Bürgersteigen. Bernhard steigt ins Auto und schreckt auf, als ihm ein fürchterliches Knattern ins Ohr dringt. Verdammt, der Vorschalldämpfer. Oder Nachschalldämpfer, wie soll er das wissen. Wilhelm hätte das gute Stück nur einmal anfassen müssen, um herauszubekommen, was Sache ist. Aber jetzt hatte es keinen Sinn mehr, ihn in solchen Dingen um Rat zu fragen.
    Im Büro trifft er als Erstes auf den Abteilungsleiter, der ihm die Hand gibt wie an jedem der ungezählten Tage, die sie nun schon dicht beieinanderhocken und miteinander arbeiten. Der Reflex des Händeschüttelns ist ihm so in Fleisch und Blut übergegangen, dass er dem Chef beinahe die Hand entgegengestreckt hätte, als er ihn eines Morgens zuerst auf der Toilette antraf. Noch bevor er sich die Hände gewaschen hatte.
    »Wir müssen noch mal über die Planung zum Jahrestag reden«, sagt der Abteilungsleiter. »Da gab es Ärger mit dem Hohen Haus. Ich muss mich erst schlaumachen, was unser Ex da will und meint.«
    »Unser Ex war hier mal Chefredakteur und sollte auf unserer Seite stehen«, sagt Bernhard und ist sich der Unsinnigkeit dieses Satzes bewusst. Ausgerechnet der, denkt er, jetzt, da er im Politbüro sitzt, will er sich wahrscheinlich gar nicht mehr erinnern.
    Das Gespräch über die Planung zum Jahrestag ist so unerquicklich, dass es die Sau graust. Murmelt eine Kollegin, die neben Bernhard sitzt und aussieht, als mache sie sich ununterbrochen Notizen, während doch nur Gekrickel und Gekrakel auf ihrem Blatt erscheint. Dabei werden hier richtige Reden geschwungen, als höre jemand mit und schreibe auf, wie sie sich mühen, um es höheren Orts zu berichten. Tut ja vielleicht auch jemand, denkt Bernhard und schämt sich für diesen Gedanken.
    »Wir müssen in den Vordergrund unserer Berichte stellen,dass es uns gelungen ist, die materiell-technische Basis zu stärken. Unsere zentral geleiteten Betriebe sind Motor der Wirtschaft. Wir müssen über unsere neuen Produktionsstätten berichten und zeigen, dass die Betriebsparteileitungen schöpferisch die Beschlüsse der Partei umsetzen.« Bernhard wüsste gern, ob solche Sätze die reine Selbstvergewisserung

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