Torstraße 1
Jacke, bevor das geklärt ist. Luise zaubert sich zur Begrüßung ein Lächeln ins Gesicht, dass er für einen Moment glaubt, Karla stünde vor ihm. Und das treibt ihn zu sagen: »Ich hatte Sehnsucht nach dir.« Und hinterherzuschicken: »Nach euch.«
Uwe stellt eine Flasche Wein auf den Tisch.
»Ich muss fahren«, winkt Bernhard ab und gießt sich dann doch ein halbes Glas ein. Er erzählt, um keine Verlegenheit aufkommen zu lassen, von der Redaktion und dem neuen Aussehen der Zeitung, das man ab Oktober wird bewundern können. Redet über den Vorschalldämpfer und das Institut, in dem er nun bald wieder ein paar Tage verbringen wird. Redet so lange, bis Uwe aufsteht und sagt, er müsse schon mal ins Bett, denn morgen früh gehe zeitig sein Zug nach Luckenwalde. Was er dawolle, fragt Bernhard und erinnert sich, dass er einmal eine Reportage über den VEB Hutmoden schreiben musste. Da hatten sie ihm erzählt, welche neuen Kreationen es gibt, und ihm einen Männerhut gezeigt, der den Namen »Globetrotter« trug und mit dem man einfach nur albern aussah.
Uwe murmelt etwas von einem Treffen mit Freunden, die er noch vom Studium kenne. Bernhard fragt nicht nach, bei der letzten Begegnung mit den beiden war man sich in die Haare geraten. Uwe hatte durchblicken lassen, dass er in einem Gesprächskreis mitredet, in dem es um Menschenrechte geht, Frieden schaffen ohne Waffen und solche Sachen. Man habe sich Informationen besorgt, die hierzulande nicht zu haben seien. Die man nicht zu lesen bekäme, obwohl sie einen weiterbringen könnten im Denken und Tun. Damals dachte Bernhard, bevor ich zu viel weiß, will ich lieber gar nichts hören, und das sagte er auch. Luise fand es schrecklich und Uwe typisch. Jetzt fragt Bernhard sicherheitshalber auch nicht weiter nach, aber er hat das Gefühl, dass ein anderes Einvernehmen in diesem Nichtfragen liegt. Jedenfalls klopft Uwe ihm unbeholfen auf die Schulter, bevor er ins andere Zimmer geht. Vielleicht hat Luise ja eine Bresche für ihren Vater geschlagen. Wundern würde es ihn, aber freuen auch.
»Trink noch ein Glas Wein«, sagt Luise und schenkt nach. »Du kannst doch hier schlafen und morgen früh nach Berlin zurückfahren.«
Bernhard nickt. Dies ist der Tag der schnellen Entschlüsse, stellt er fest und sagt: »Ich werde Wilhelm aus dem Altenheim nehmen und zu mir holen.« Luise sieht erschrocken und zugleich gerührt aus und will wissen, wie er sich das vorstellt, wenn er den ganzen Tag arbeiten geht. »Ich weiß es nicht«, muss er gestehen. »Aber Wilhelm sah so unglücklich aus, als ich ihn besucht habe. Vielleicht sortiert sich alles wieder im Kopf, wenn er erst bei mir ist. Ich weiß es nicht.«
So richtig wissen sie es beide nicht und fangen deshalb gleichzeitig an, über ein neues Thema zu reden. Luise will wissen, wie es Elisa geht, und Bernhard will hören, wie das Volontariat beim ADN läuft.
»Erst du«, sagt Bernhard und ist froh, schneller gewesen zu sein.
»Sie haben mir jetzt den Sport aufgedrückt. Davon verstehe ich ja eine Menge.« Luise grinst. »Letztes Wochenende habe ich über Flossenschwimmen und Streckentauchen berichtet.« Das Lächeln verschwindet aus ihrem Gesicht. »Und letzte Woche habe ich vier Tage in Berlin in der Zentrale gearbeitet. War delegiert sozusagen.« Luise gießt sich ein Glas Wein ein und stürzt es hinunter.
»Da hättest du doch mal bei mir vorbeikommen können«, meint Bernhard, aber Luise schüttelt den Kopf.
»Keine Zeit. Bin abends nur noch schnell mit dem Sputnik nach Hause. Außerdem war ich deprimiert, die ganzen Tage.« Sie steht auf und geht ans Fenster, kehrt ihm den Rücken. »Eine zweitägige Beratung des Zentralkomitees der SED und des Ministerrates der DDR mit den Vorsitzenden der Räte der Kreise, den Oberbürgermeistern der Städte und den Stadtbezirksbürgermeistern zur Vorbereitung der Kommunalwahlen begann am Mittwoch im Hause der Volkskammer in Berlin. Im Mittelpunkt der Beratung stehen die Aufgaben und Erfahrungen bei der weiteren Verwirklichung der Parteitagsbeschlüsse auf kommunalpolitischem Gebiet.« Luise wird lauter und lauter und zum Schluss des Satzungetüms schreit sie fast. Dann dreht sie sich zu ihm um und flüstert: »Wie halten wir das bloß aus, Vater? Kannst du mir das sagen? Das ist doch gequirlte Scheiße, was wir da aufschreiben.«
So drastisch hat er seine Tochter noch nie reden hören. Das muss an Uwe liegen. Der Junge verdreht ihr noch völlig den Kopf. Er fühlt wieder die Enge
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