Torstraße 1
in der Brust bei dem Gedanken,dass Luise sich verrennt und sich die Zukunft verbaut. Aber noch mehr fürchtet er, sie könnte die gleiche Krankheit wie Martha und Karla haben. Deprimiert, sie hat doch deprimiert gesagt. Das hat er doch richtig verstanden.
»Was machst du, wenn du deprimiert bist«, will er wissen, stellt sich zu Luise ans Fenster und legt ihr einen Arm um die Schultern. Ungewohnt ist das, in letzter Zeit gab es immer nur einen flüchtigen Kuss und eine angedeutete Umarmung, wenn sie sich begrüßt und verabschiedet haben. Dass sie das verlernt haben, sich fest zu umarmen, anzufassen, wenn der andere in Not ist. Er zieht seine Tochter an sich, bis ihr Kopf an seiner Brust liegt und sie die Arme um ihn schlingt. So stehen sie und reden nicht. Was sollen sie auch sagen, Luise leidet schon jetzt an ihrem künftigen Beruf, den sie sich so sehr gewünscht hat. Und er kann ihr nicht helfen.
Seltsamerweise denkt er nun an Elsa. Daran, was sie ihm von ihrer Tochter geschrieben hat vor einigen Jahren. »Stephanie ist eine Revolutionärin geworden«, hatte sie geschrieben. »Das würde dir bestimmt gefallen. Sie will die Nazirichter auf die Strafbank bringen und die ganze Welt befreien von Armut und Unterdrückung. Ihr hättet die Mauer gar nicht gebraucht, sondern einfach nur auf solche wie Stephanie setzen müssen.« Darüber hätte er gern mit Elsa geredet damals. Wie groß die Unterschiede trotzdem sind zwischen hier und da. Stephanie und Luise würden sich wahrscheinlich gut verstehen, denkt er, möglicherweise sind sie ein Kaliber. Aber das ist nur eine Vermutung.
Er hat Elsa selten gesehen in den vergangenen Jahren und immer allein. Ihre Kinder kennt er nur als kleine Kinder und später von Fotos. Und auch wenn Elsa seit ein paar Jahren wieder über die Grenze konnte, waren die Treffen mit ihr in so vieler Hinsicht kompliziert geworden. Sie brauchte die Einreisepapiere, und er musste einen neutralen Treffpunkt finden, das Institutund sein Zuhause waren aus unterschiedlichen Gründen tabu, und ein öffentlicher Ort durfte nie so öffentlich sein, dass ihm nachher wieder die Firma auf den Fersen war. Seine Weigerung damals, die Westfreundin auszuspionieren, hatte ihn genug gekostet, wer weiß, ob ihm das in seiner jetzigen Position noch einmal gelingen würde. Vor ihrem Tod war auch die eifersüchtige Karla ein Problem gewesen, und danach die tote Karla. So hatte jedes der seltenen Wiedersehen ungewollt den Charakter eines konspirativen Treffens angenommen.
Luise macht sich los von ihm, schnieft und fragt, ob er Hunger habe. Zu seiner Überraschung hat er, und sie gehen zusammen in die Küche, um ein spätes Mahl zuzubereiten. Viel ist nicht da, Brot, Margarine, ein wenig Leberwurst und Harzer Käse.
»Wer isst bei euch denn Harzer Käse?«
Luise lacht. »Uwe mag ihn. Auch wenn er hinterher elend aus dem Mund riecht. Aber er putzt sich immer die Zähne, damit er weiter seine Küsse bekommt.«
Nun getraut Bernhard sich doch zu fragen, was der Freund seiner Tochter am nächsten Tag in Luckenwalde will. Luise druckst herum und weicht aus. Sagt, dass sie froh sei, das Volontariat bald hinter sich zu haben, und überlege, ob sie wirklich weiter in Leipzig studieren möchte. Darüber ist Bernhard so erschrocken, dass er vergisst, welche Frage er gestellt hat.
»Das hat er dir doch bestimmt eingeredet, das Studium nicht zu beenden! Weißt du eigentlich, wie viele sich jedes Jahr um so einen Studienplatz bewerben? Und du willst einfach hinschmeißen, nur weil ein Theologiestudent dir das einflüstert?«
Nun ist es doch wieder passiert. Bernhard weiß, dass sie jetzt beide nicht zurückkönnen. Er weiß, dass er heute Nacht nicht hier schlafen, sondern nach Hause fahren und verzweifelt sein wird. Weil alles so verfahren ist und er sich mit seiner eigenen Tochter nicht einigen kann.
»Lass Uwe aus dem Spiel, es geht hier nur um dich undmich. Ich liebe Uwe, und du wirst mir da nicht reinreden. Er ist morgen unterwegs, um ein Konzert in einer Kirche mitvorzubereiten. Da singt die Wegner. In Neuruppin, wenn du es genau wissen willst. Kannst du ja deinen Genossen erzählen, das ist der kürzeste Weg, ihn nach Bautzen zu bringen.«
Bernhard kann nicht glauben, dass sie das wirklich gesagt hat. Seine Tochter. Zu ihm. Da stehen sie sich gegenüber, in Luises Wohnzimmer. Zwischen ihnen zwei Meter, die sich nie wieder überbrücken lassen. Luise ist so laut geworden, dass Uwe verschlafen in der Tür erscheint.
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