Torstraße 1
er, unser gemeinsamer Sohn sein, der von Elsa und mir. Und Luise unsere gemeinsame Tochter. Ach, was er da denkt, begeht Verrat an allen und allem, es ist zum Verrücktwerden. Luise nickt, und Bernhard kann sehen, dass sie enttäuscht ist. Aber daran ist nichts zu ändern.
Am nächsten Morgen ist keine Zeit mehr, um über wichtigeDinge zu reden. Bernhard trinkt mit Luise im Stehen einen Kaffee und drückt sie zum Abschied noch einmal an sich. Wenigstens das haben sie an diesem Abend gelernt: sich wieder zu umarmen. Er steigt in sein Auto und winkt Luise, die am geöffneten Fenster steht. Fährt in die Redaktion und ist schon nach zwei Stunden wieder im Trott, den er so gut kennt und der eine Verlässlichkeit hat für ihn und ein Trost sein kann, wenn man sich zu viele Gedanken macht über Dinge, die sich nicht ändern lassen.
Am Nachmittag geht er ins Institut in die Wilhelm-Pieck-Straße. Diesmal hat er dem Ressortleiter anderthalb Tage abgeschwatzt, um Recherchen über die 1879 gegründete Zeitung »Sozialdemokrat« anzustellen. Er wird einen Text für die Geschichtsseite schreiben. »Mit Hilfe der Zeitung begannen die marxistischen Kräfte, eine einheitliche Strategie zu entwickeln, und setzten die Geschlossenheit der Partei bei politischen Aktionen durch. Das damalige Zentralorgan erwies sich als wichtiges Instrument, um Prinzipien des demokratischen Zentralismus auch unter dem Ausnahmegesetz zu gewährleisten.« So oder ähnlich könnte er den Text hier in der Redaktion an seinem Schreibtisch verfassen, auch ohne noch einmal ins Institut zu gehen. Das ganze Wissen ist von den Lesegeräten dort in seinen Kopf gewandert, aber das muss der Ressortleiter nicht wissen. Übermorgen wird er Wilhelm zur Probe nach Hause holen. Bis dahin braucht er ein bisschen Ruhe und Entspannung, und dafür gibt es keinen besseren Ort als das Institut, irgendeinen Platz in einem hässlichen Arbeitsraum oder in der Bibliothek, zwischen alten Kamellen und zukunftsfrohen Sätzen.
Im Institut freuen sie sich, ihn zu sehen, inzwischen hat er hier viele gute Bekannte. Der Pförtner begrüßt ihn und fängt einen Schwatz an über Fußball und den letzten regennassen Sonntag im BFC-Stadion. Im Lesesaal bekommt er eines derfünf Mikrofilmlesegeräte, er kann in Zeitungen stöbern und so tun, als sei er beschäftigt. Dieses Sitzen und Starren hat etwas Meditatives. Es ruiniert die Augen, aber Bernhard mag es. Er mag es sehr. Kurbelt sich von Ausgabe zu Ausgabe und kommt vom Hundertsten ins Tausendste, notiert hin und wieder etwas in sein liniertes hellblaues Schulheft. Diese Hefte benutzt er nun schon so viele Jahre für all seine Notizen. Was er hier aufschreibt, wird er wahrscheinlich nie wieder brauchen. Hingekritzeltes Zeug ohne Sinn und Verstand, nur um im Institut sitzen zu können und beschäftigt auszusehen. Er muss Elisa schreiben, dass Wilhelm vielleicht zu ihm ziehen wird. Wahrscheinlich denkt sie dann, er hat nur eine weitere Ausrede gefunden, nach den Überstunden und schweren Erkältungen, um sie nicht zu sehen.
Er erschrickt, als ihm jemand auf die Schulter tippt, und stößt mit dem Kopf an das Lesegerät. »Hab ich dich geweckt«, tönt hinter ihm eine Stimme. Der stellvertretende Institutsdirektor, weiß er, noch bevor er sich umdreht. Sie treffen sich nicht allzu oft, meist nur hier im Institut, manchmal noch nach Feierabend auf ein Bier, nie zu Hause. Aber es gibt zwischen ihnen eine unausgesprochene Sympathie.
»Franz, was machst du hier im Lesesaal?«
»Schauen, ob die Nutzer schlafen oder dösen. Kommst du mit in die Kantine?«
Wie so oft gibt es Makkaroni mit Tomatensoße. »Kindergartenessen«, schimpft Franz und pikt mit der Aluminiumgabel in Jagdwurststückchen, die in der Tomatensoße schwimmen. »Können die hier nicht mal was Anständiges für Männer kochen?«
Bernhard grinst. Er mag dieses Essen, es erinnert ihn an die Zeiten, als Luise noch in den Kindergarten ging und nichts anderes essen wollte als Makkaroni mit Tomatensoße. Roni mit Dose hat sie das genannt. Jetzt muss er lachen beim Gedankenan Luises ernstes Gesicht, das sie immer gemacht hat, um ihrer Forderung Nachdruck zu verleihen. Roni mit Dose.
»Woran denkst du?«, will Franz wissen.
»An Luise, als sie noch ein kleines Mädchen war und Makkaroni ihr Lieblingsessen.«
Franz lächelt und schiebt seinen Teller beiseite. »Wie geht es dir«, fragt er, und Bernhard weiß, dass ihn das wirklich interessiert. Also erzählt er ein bisschen. Von
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