Torstraße 1
Herzens ist er jedes Mal froh, wenn Wilhelm mit ihm zum Haus laufen will. Dann wird aus dem Institut wieder das Jonass, das Kaufhaus, an dem sein Vater mitgebaut hat und in dem er fast umgekommen wäre. Aber nur fast.
Als Bernhard aus der Küche mit zwei Flaschen Bier zurückkommt, hat Wilhelm einige Zeitungen vom bedrohlich hohen Stapel genommen, der neben dem Schreibtisch gewachsen ist.
»Du solltest die Zeitungen einem Fischladen geben. Die packen doch ihren Aal gern ins Neue Deutschland«, sagt Wilhelm. Darüber müssen sie beide lachen.
»Der Stapel reicht für die Aalproduktion der nächsten zehn Jahre«, grinst Bernhard und überlegt, ob er in den vergangenen Jahren je ein Stück von dem begehrten Fisch gesehen und gegessenhat. Wahrscheinlich nicht, ihm fehlen die Beziehungen für Aale und Vorschalldämpfer. »Makrele schmeckt doch fast so gut wie Aal«, sagt er und bringt Wilhelm damit noch einmal zum Lachen. Plötzlich ist er sicher, dass es ein gutes Wochenende wird mit dem Vater. Sie werden reden, Bier trinken, gegen die Verwirrung kämpfen, die im Heim so oft von Wilhelm Besitz ergriffen hat. Vielleicht versucht er auch einfach, diese Wohnung gegen zwei kleine Wohnungen zu tauschen. Es gibt bestimmt eine Menge junge Paare, die genau so etwas suchen. Drei Zimmer, Bad und Küche, da kann man gut und gern mit zwei Kindern leben. Er hat sowieso ein schlechtes Gewissen, so viel Platz für sich zu haben. Aber er konnte sich noch nicht aufraffen, etwas Neues zu suchen, obwohl Karlas Tod schon vier Jahre zurückliegt.
Bernhard trinkt den letzten Schluck Bier aus der Flasche und macht sich mit Wilhelm auf den Weg zum Institut. Zum Jonass. Wilhelm will nur von außen schauen, eine Runde ums Haus drehen, wie er es nennt, was so natürlich gar nicht geht, weil man eben nur davorstehen kann. Da stehen sie also wieder davor, wo sie immer stehen: vor dem Nikolaifriedhof, an die Mauer gelehnt. Und Wilhelm erzählt, was er immer erzählt: wie er unter dem schweren Balken lag und sich nicht rühren konnte, bis auf den einen Arm. Und wieder hört die Geschichte auf, wo Wilhelm sie immer aufhören lässt.
»So hab ich eine Ewigkeit dagelegen und auf das Gekritzel neben mir auf der rohen Wand gestarrt. ›Brüder, zur Sonne, zur Freiheit‹, stand da, ›KPD‹ und ›Augusta, ich liebe dich‹. Wir waren eine ziemlich rote Truppe auf der Baustelle, musst du wissen.«
»Und dann?«, fragt Bernhard nach, wie immer an dieser Stelle, und als Wilhelm schweigt, wie immer an dieser Stelle, fährt er selbst fort: »Dann hast du dein Messer genommen und auch was in die Wand geritzt.«
»Kann sein.«
»Was denn? Was hast du geschrieben?«
»Vergessen«, antwortet Wilhelm. »Ich muss wohl auch einen Schlag auf den Kopf gekriegt haben.«
»Hast du was über mich geschrieben?«
»Wie soll ich was über dich geschrieben haben, Junge, du warst doch noch gar nicht auf der Welt.« Aber Wilhelm sieht bei diesem Satz wie ein ertappter Lügner aus.
Zu Hause sagt Bernhard, Wilhelm solle sich ein bisschen hinlegen, während er etwas kocht. »Ich habe heute zwar schon Makkaroni mit Tomatensoße gehabt, aber gestern etwas für uns beide vorbereitet. Szegediner Gulasch, das magst du doch.«
Wilhelm nickt und lächelt. »Das mag ich sehr. Martha konnte es so wunderbar machen. Da ging nichts drüber.«
»Na, koste nachher erst mal mein Gulasch«, sagt Bernhard. »Dann wirst du schon sehen.« Nach fünf Minuten in der Küche schaut er noch einmal, ob Wilhelm sich wirklich hingelegt hat, und macht sich beruhigt an die Arbeit. Summt beim Kartoffelschälen vor sich hin und überlegt, dass er gleich morgen an Elisa schreiben und sie einladen wird. Man kann auch gemeinsam darüber sprechen, wie das mit den Wohnungen am besten geregelt wäre. Vielleicht will sie ja mit ihm zusammenziehen, hier in Berlin. Er ist etwas erschrocken über diesen kühnen Gedanken, aber im Moment scheint ihm vieles möglich. Das Leben ist gut, man kann etwas draus machen. Noch einmal geht er auf Zehenspitzen ins Arbeitszimmer und sieht, dass Wilhelm tief schläft, auf der Seite, mit dem Gesicht zum Fenster.
Bernhard deckt im Wohnzimmer den Tisch, immer noch leise, damit Wilhelm nicht wach wird. Stellt einen Kerzenständer auf den Tisch, muss eine Weile nach Kerzen suchen, zwei Untersetzer für die Töpfe, Biergläser aus der Schrankwand. Die guten mit dem Goldrand. Karla hatte einmal ein Vermögen für Gläser mit Goldrand ausgegeben, weil sie die so edel fand,
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