Torstraße 1
aber nur etwa halb so alt wie sie selbst. Erst als sie Tag für Tag mit ebensolcher Spannung dessen Urlaubsvertretung entgegenfieberte, einem untersetzten Glatzkopf, nahm Torsten ihr ab, dass es ihr tatsächlich um die Post ging und nicht um den Boten. Was sie denn für Wunder erwarte, wollte er wissen. Den Millionenauftrag? Einen Lottogewinn? Verbotene Liebesbriefe? »Das ist eine geburtsbedingte Prägung«, hat sie geantwortet, mit einem Rauchfrei-in-acht-Tagen-Kaugummi im Mund. Acht Monate wohl eher in ihrem Fall.
Die Türglocke klingelt, eine Kundin kommt herein. »Sind die Bilder fertig, die wir vor Ostern gemacht haben?«
Während Elsa die Abzüge heraussucht, wandert die Frau durchs Studio. Sie bleibt vor dem Bild eines Mannes stehen und betrachtet sein in Mondlicht getauchtes Gesicht – im Hintergrund das Schaufenster mit dem Bildschirm, über den die Mondlandung flimmert. »Wer hat das aufgenommen?«
Elsa schaut kurz auf. »Das? Eine Frau Mitchell.«
Schon öfters ist es vorgekommen, dass Kunden sie nach dem Foto gefragt haben, und bisher haben sich alle mit ihrer Antwort zufrieden gegeben. Stimmt ja auch, so hat sie geheißen – damals, vor zwanzig Jahren. Dass sie jetzt Matthis heißt, hat sie Hanns zu verdanken. Aber schon nach der Scheidung von Stephen ist sie die Namenswechselei leid gewesen und hat sich als Fotografin Elsa Jonass genannt.
»Mitchell?«, sagt die Frau. »Nie gehört. Und mit Vornamen?«
Elsa ist froh, dass es wieder klingelt. »Entschuldigen Sie bitte«, sagt sie und geht persönlich öffnen. Schließlich ist es der Postbote.
Am Mittag schaut Elsa in den Terminkalender und ins Auftragsbuch, ob noch etwas Dringendes ansteht. Nachher muss Torsten den Laden alleine schmeißen, sie will am WochenendeHanns in Lübars beim Frühjahrsputz in »der Hütte« helfen. Sie freut sich auf ein paar ruhige Tage mit ihm, ohne Kunden und Telefon, draußen auf dem Land – so weit man eben aufs Land kommt, ohne mit dem Kopf gegen die Mauer zu stoßen. Nach diesen ruhigen Tagen im Grünen wird sie sich ebenso freuen, wieder Stadtluft und den Geruch der Entwicklerflüssigkeit zu atmen. Und in ihrem Laden Porträts für Bewerbungsmappen und Kinderbilder für die Großeltern zu knipsen. Meist kann sie die Leute dazu bringen, nicht mit gefalteten Händen vor der Leinwand zu sitzen, sondern sich zu bewegen, mit ihr oder miteinander zu sprechen, bis sie die Kamera vergessen. Oder sie sorgt dafür, dass sie in dem Augenblick, in dem sie fotografiert werden, tatsächlich etwas zu lachen haben. Sie hat noch nie verstanden, wieso Menschen auf natürliche Weise lachen sollten, wenn sie auf einem Stuhl sitzen, während ein Fremder das Objektiv einer Kamera auf sie richtet. Die meisten tun es auch nicht. Es sieht eher schmerzverzerrt aus, wenn sie es versuchen. Deshalb hat sie Torsten nach der Probezeit eingestellt und es nie bereut – er ist ein guter Fotograf, weder besser noch schlechter als viele andere. Aber er hat ganz spezielle, unbezahlbare Talente.
Als er noch neu war, hatten sie ein besonders verkrampftes Paar im Studio, das Fotos für Hochzeitseinladungen wollte. So steif und düster, wie Mann und Frau auf den Stühlen saßen, hätte jeder gute Freund von der Hochzeit abgeraten. Plötzlich hörte sie hinter ihrem Rücken ein Poltern, die künftigen Eheleute glucksten erst verhalten, schauten sich dann an und lachten herzhaft. Elsa hielt drauf und fotografierte ein gelöstes, einander zugewandtes Paar. Mit den Bildern waren alle sehr zufrieden. Es wunderte sie aber schon, wie man über diese Stufen stolpern konnte, die für jeden sichtbar zum Podest führten. Bis sie einen mürrischen Konfirmanden vor der Linse hatte, der nach einem Poltern hinter ihrem Rücken in fröhliches Gelächter ausbrach.Wie immer ist das lange Wochenende viel zu kurz gewesen. Elsa schaut aus dem Fenster in den Garten, in dem Hanns Schnittlauch und Petersilie für das Abendessen schneidet. So sorgfältig, wie er jedes einzelne Pflänzchen unter die Lupe nimmt, wird er damit noch eine Weile beschäftigt sein. Sie wird Hanns vermissen in der kommenden Woche, vermisst ihn schon jetzt. Gleichzeitig wird es sie froh machen, daran zu denken, wie er hier herumwerkelt, in der Holzwerkstatt hinter dem Haus und im Garten, Hemd und Jeans mit Sägespänen, Mörtel oder Mehl bestäubt, und wie glücklich er ist, wenn er sie und Berlin und alles andere darüber vergisst. Auch wenn er behauptet, dass er Tag und Nacht an sie denke, nur
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