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Torstraße 1

Torstraße 1

Titel: Torstraße 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sybil Volks
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dass dieses Denken hier eben ein anderes sei als in der Stadt.
    Aus der großen Wiese hinter ihrem Grundstück steigt Abendnebel auf und hüllt Baumstümpfe und Sträucher in eigenartige Gewänder. Elsa läuft ins Schlafzimmer und holt ihre Kamera aus dem schon gepackten Koffer.
    »Muss noch schnell was erjagen!«, ruft sie Hanns durchs Küchenfenster zu und ist aus dem Haus.
    »Mir scheint, du hast ein paar fette Mäuse gefangen«, begrüßt Hanns sie etwas später am gedeckten Tisch. »Möchtest du trotzdem noch etwas vom Auflauf?«
    Angeblich hat sie so ein sattes Katerlächeln um die Lippen, wenn ihr ein paar Schnappschüsse gelungen sind. Behauptet Hanns. Im Spiegel hat sie es noch nie gesehen. Sie gibt ihm einen Kuss und häuft sich den Teller voll. Anfangs hat Hanns gemeckert, dass sie ihre Kamera nach Lübars mitnimmt und die Arbeit nicht mal ruhen lassen kann. Aber er verschwindet ja auch stundenlang in der Werkstatt, obwohl er längst Rentner ist. Und im Grunde versteht er, dass die Bilder, die sie hier macht, für sie die reine Erholung sind. Er versteht überhaupt eine Menge. Nur deshalb hat sie noch einmal geheiratet. Hanns geheiratet. Manchmal hat sie die Auftragsarbeiten und Porträtsso satt, dass sie tagelang menschenleere Bilder macht. Das geht in Lübars sehr gut. Die alte Dorfkirche, Maulwurfshügel, Münzen im Brunnen. Das Tegeler Fließ mit der Grenze mitten durch Wald und Bach. Aber irgendwann findet sie doch die alten Frauen interessant, die über den Gartenzaun tratschen, die Wochenenddörfler aus Berlin, die sonntags auf ihren Pferden ausreiten – und natürlich die Moped fahrende Postbotin. Dann macht sie mit dem Teleobjektiv Schnappschüsse, nichts als Schnappschüsse, und wirft die meisten hinterher weg.
    »Und nach dem Essen eine leckere … Stange Kaugummi«, sagt Elsa, als ein Wagen vor dem Eingangstor hält. Hanns und sie sehen sich fragend an. Etwas spät für Besuch hier draußen. Überhaupt, unangemeldeter Besuch, wer kann das sein? Elsa schaltet das Licht aus und schaut aus dem Fenster. Sie sieht Jonas mit den Kindern aussteigen und auf das Haus zukommen. Ihr Herz beginnt zu rasen.
    Noch halb in der Tür stehend, die Kinder im Schlepptau, stößt Jonas atemlos hervor: »Luise ist verhaftet.« Dann setzt er hinzu: »Bernhards Tochter.«
    Mein Gott, als ob sie nicht wüsste, wer Luise ist. Aber wieso verhaftet?
    Später, als die Kinder im Wohnzimmer vor dem Fernseher sitzen und sie am Küchentisch, erzählt Jonas die ganze Geschichte. Wie er in Ostberlin war, seine Band im Prenzlauer Berg ein Konzert gegeben hat, auch Ostgruppen aufgetreten sind und das Ganze irgendwie in eine Protestkundgebung übergegangen ist. Es wurde zum Boykott der Kommunalwahlen aufgerufen, ein paar Typen verließen den Saal, und kurz darauf kamen Vopos in die Kneipe, haben Ausweise verlangt und erst mal alles mitgenommen, was zu lange oder bunte Haare oder sonst was Unsozialistisches an sich hatte. Als sie ein noch sehr junges Mädchen drangsalierten, das nur den Behelfsausweis PM 12 vorweisen konnte und Berlinverbot hatte, ist Luise ausgerastet.So hat er sie noch nie gehört und gesehen, sie hat die Vopos angebrüllt, irgendwie muss bei ihr eine Sicherung durchgebrannt sein. Und als die Vopos dann Luise drangsalierten, ist Uwe ausgerastet, da haben sie gleich beide eingesackt. Kannten die beiden ja auch schon.
    »Und dich?«, unterbricht Elsa Jonas’ Redefluss.
    Er schaut zu Boden. »Mich und die Band haben sie auch mitgenommen und versucht, uns einzuschüchtern. Wir haben jetzt offiziell Auftrittsverbot in Ostberlin. Nach ein paar Stunden haben sie uns laufen lassen.«
    Das klingt fast enttäuscht, findet Elsa, und will ihn daran erinnern, dass er zwei Kinder hat, im Moment sogar alleine, solange Sabine in Urlaub ist. Aber dann fällt ihr ein, dass Sabine ihn seit vielen Jahren daran erinnert, dass er eine Frau und zwei Kinder hat. Seit dem gescheiterten Fluchthilfeversuch, in den er damals verwickelt war, ist es eher schlimmer geworden. Er wollte nie darüber sprechen, aber Elsa kann den Eindruck nicht loswerden, dass er seitdem versucht, eine Schuld abzutragen.
    »Vielleicht kann Stephanie etwas für Luise und Uwe tun?«, schlägt sie vor. »Die haben doch Kontakt zu Ostanwälten in ihrer Kanzlei?«
    »Vielleicht.« Jonas kramt Zigaretten aus der Hemdtasche.
    »Hier drinnen leider nicht mehr«, sagt Hanns. »Elsa ist auf Kaugummi.«
    »Okay«, sagt Jonas und steht auf, »ich sollte sowieso zurück nach

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