Torstraße 1
wiesie es ausdrückte. Er trank das Bier trotzdem am liebsten aus der Flasche.
Nun ist alles bereit, und Bernhard geht, um Wilhelm zu wecken. Ruft erst leise von der Tür aus: »Vater, aufwachen, das Essen ist fertig.« Wilhelm rührt sich nicht, so tief schläft er. Bernhard überlegt, ob er versuchen soll, das Gulasch und die Kartoffeln warm zu halten. Aber es ist schon ziemlich spät, und man soll ja deftiges Essen nicht kurz vor dem Schlafengehen zu sich nehmen. Da wälzt man sich die halbe Nacht mit vollem Magen. Also macht er ein paar leise Schritte zur Couch, auf der Wilhelm liegt. Geht in die Knie und fasst den Vater sanft an der Schulter. Rüttelt leicht. »Aufstehen, Vater«, sagt er.
Wilhelm reagiert nicht. Wilhelm ist tot. Das wird ihm in dem Moment bewusst, als sein Arm unter der Decke hervorrutscht und schlaff liegen bleibt.
»Vater?«, sagt Bernhard trotzdem noch einmal. »Vater?«
Dann geht er ins Wohnzimmer, setzt sich an den Tisch, füllt zwei Teller mit dem Essen, das er gekocht hat, und zwei Gläser mit Bier bis zum Goldrand. Bleibt dort sitzen, bis es draußen dämmert und der nächste Tag beginnt.
Ein letztes Band
In der regennassen Nacht ragt das Gebäude düster in den Himmel. Kein Auto fährt über den löchrigen Asphalt der Prenzlauer Allee, die Straßenlaternen flackern in müdem Gelb. Reihen um Reihen dunkler Fenster, das Haus liegt in tiefem Schlaf. Mitten in der Nacht, so kann sie nur hoffen, wird niemand mehr arbeiten im Institut. Sie ist über die Grenze gegangen, im Dunkeln, im Regen, zu Fuß, von West nach Ost. Auf einmal hat sie gewusst, dass sie jetzt oder nie noch einmal ins Haus gelangen kann. Dann hat sie lange den Schlüssel gesucht und endlich im Kästchen gefunden. Den Schlüssel zum Nebeneingang des Jonass, den er ihr damals gegeben hat. Den Eingang gibt es noch, das Jonass nicht mehr. Einen Moment wird ihr schwarz vor Augen, als sie den Schlüssel ins Schloss steckt. Gleich wird der Alarm schrillen, gefolgt von Polizeisirenen. Man wird sie verhaften, als Einbrecherin, Spionin. Sie wird nie mehr zurückkehren in ihren Teil der Stadt.
Der Schlüssel passt, nach all den Jahrzehnten öffnet sich die Tür. Sie kann es nicht glauben. Jede Nacht hätte sie hier hineinspazieren können in beinahe sechzig Jahren. Alles bleibt still, nur ihr Herzschlag dröhnt in den Ohren. Sie wagt es nicht, Licht zu machen. Doch den Weg in diesen Raum findet sie blind. Eine Poststelle wird es nicht mehr sein. Was wird sie dort erwarten? Oder wer? Vielleicht ist auch er heute Nacht noch einmal zurückgekehrt? Die Tür steht halb offen, sie geht einen Schritt hinein. Es ist so still, dass sie den eigenen Atem hört. Sie legtsich auf den langen Tisch in der Mitte des Raums. Seltsam, dass dieser Tisch noch immer hier steht. Aber kein Postsack liegt darauf, nur ein weißes Leintuch.
Helles Licht fällt ihr ins Gesicht. Ist schon Morgen? Eingeschlafen muss sie sein in der Poststelle, auf der Liege! Sie hört Schritte im Haus. Gleich kommen sie zur Arbeit, die Verkäuferinnen, die Mitarbeiter des Instituts. Jeden Augenblick wird man sie entdecken! Heinrich Grünberg wird in der Tür stehen, oder war es Pieck oder Ulbricht? Nein, Honecker. Es muss jetzt Honecker sein. Aufstehen, befiehlt sie sich. Aufstehen! Alle Knochen schmerzen. Ihre Haut fühlt sich faltig und rau an. Wie ein altes Reptil. Sie ist alt, uralt! Wie lange hat sie hier gelegen und geschlafen?
Mit einem Ruck richtet Vicky sich auf und öffnet die Augen. Sie schaut auf die Wand ihres Schlafzimmers. Das Kalenderblatt zeigt Mittwoch, den 22. März 1989.
Elsa öffnet die Tür zum Fotostudio Jonass. Wie jeden Morgen geht sie zuerst durch den Laden ins Labor und atmet kräftig durch. Andere finden vielleicht, dass es hier ungesund nach Chemikalien riecht, aber für sie bedeutet dieser Geruch noch immer gespannte Erwartung. Sind die Bilder so geworden, wie sie sie im Kopf hatte, oder doch anders – und wenn anders, sind sie weniger gelungen oder besser geworden als die, die ihr bei der Aufnahme vor Augen standen?
»Guten Morgen!«, begrüßt sie ihren jungen Angestellten im Studio. »War die Post schon da?«
Torsten lacht. »Da hätte ich den Boten doch aufgehalten, bis Sie da sind.«
Er kann es nicht lassen, sie mit ihrer Begeisterung für Postboten aufzuziehen. Hat ihr schon unterstellt, sie hätte einAuge auf den Briefträger geworfen, der sein Fahrrad immer so schwungvoll an die Hauswand lehnte. Warf. Flott war der allerdings,
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