Torstraße 1
während sie ihrer fast vierzigjährigen Tochter ihren eigenen Bruder vorstellt, den diese zuletzt als kleines Mädchen gesehen hat, fühlt sie eine Welle der Scham aufsteigen.
»Bitte setz dich doch«, sagt sie zu Klaus und deutet in den Sessel neben ihrem.
Vicky kommt mit einer Schüssel giftgrüner Bowle hereinspaziert und schenkt allen ein. Elsa schnuppert an ihrem Glas. Sekt und Wein, und zwar nicht zu knapp.
»Wo ist die zweite Bowle?« Wahrscheinlich gab es, wie manchmal zu besonderen Feiern, eine Ausgabe mit und eine ohne Alkohol.
»Heute gibt’s eine für alle!«, sagt Vicky und füllt ihr eigenes Glas mit Schwung.
Das darf doch wohl nicht wahr sein. Elsa erinnert sich an Vickys Rückfall nach Leos Tod. An den jahrelangen Kampf darum, wieder trocken zu werden, von dem außer Elsie und ihr keiner etwas wusste. Und jetzt soll alles von vorne losgehen? Ohne mich!, denkt Elsa und greift nach Vickys Glas.
»Lass sie«, sagt Elsie in einem Ton, der keinen Widerspruch duldet.
Vicky hebt ihr Glas. »Auf Leo!«, sagt sie, und alle trinken auf Leo, ob sie ihn kennengelernt haben oder nicht. »Auf Wilhelm!« Einen Moment hat Elsa den Eindruck, in den Augen ihrer Mutter Tränen glitzern zu sehen. Sie füllt ihr Glas ein zweites Mal, während Stephanie ihres unangerührt an Nick übergibt. Die beiden sind doch nicht mit dem Auto da? »Auf Werner in Amerika. Und auf Bernhard«, ruft Vicky, »den ich auch eingeladen habe. Aber das werde ich nicht mehr erleben, dass sie uns zusammen feiern lassen. Erich hat neulich erst gesagt, die Mauer bleibt noch fünfzig oder hundert Jahre stehen.«
»Seit wann glaubst du an die Orakel von Onkel Erich?«, will Elsie wissen.
Da schaltet sich Klaus ein. »Erst kürzlich haben sie wieder Flüchtlinge an der Mauer erschossen! Das habe ich selbst in der Zeitung …«
»Zeitung?«, fällt ihm Stephanie ins Wort, »du meinst wohl in der BLÖD? Die freuen sich doch über jeden Mauertoten. Notfalls erfinden sie welche.«
Nick legt Stephanie die Hand auf den Arm. »Immerhin gab es wieder einen gescheiterten Fluchtversuch an der Chausseestraße. Auch ohne Tote ist das schlimm genug.«
»Das ist wahr«, sagt Elsie. »Aber heute, ausnahmsweise, reden wir nicht über Politik.«
Ein Knirschen dringt durch das Wohnzimmer, eine Stimme wie unter Wasser, tief vom Meeresgrund. Sie wird lauter und klarer, bis man sich umschauen möchte, ob noch jemand im Raum ist. »Ich küsse Ihre Hand, Madame …« Vicky hat das alte Grammofon hervorgeholt, das Elsa seit Kindertagen nicht mehr zu Gesicht bekommen hat. Es funktioniert noch. Ein Stapel alter Platten liegt daneben. Wo hat ihre Mutter die bloß aufbewahrt in all den Jahren?
Ferdinand, der Elsie mit einer Verbeugung aufgefordert hat, sieht beim Tanzen auf einmal fünfzig Jahre jünger aus, auch wenn der Rücken krumm ist und die Beine mit dem Tempo der Musik nicht Schritt halten. Laut singt er mit, etwas zu laut für alle, deren Gehör noch intakt ist. Beim nächsten Lied bittet Elsie Vicky zum Tanz. Sie kann ebenso gut führen wie folgen, stellt Elsa fest, wo auch immer sie das gelernt hat. Nun tanzen die beiden alten Frauen zusammen durch den Raum und durch wer weiß welche Zeiten. Stephanie tanzt mit Nick, man sieht, dass es nicht ihre Musik ist, aber dass sie es genießen, sich zu berühren und sich miteinander zu bewegen. Klaus sitzt mit verschränkten Armen im Sessel und beobachtet die beiden mit einer Mischung aus Faszination und Abscheu. Elsa gefällt dieser Blick nicht, aber es gefällt ihr auch nicht, dass er genau wie früher allein und verloren dasitzt.
»Wollen wir?«, fragt sie ihren Bruder. Einen Augenblick sieht er verblüfft aus, dann erhebt er sich und tanzt einen flotten Fox mit ihr. So viel Schwung hätte sie Klaus gar nicht zugetraut. Aber was wusste sie schon von Klaus?
»Nicole, könntest du noch einen Wein öffnen?«, fragt Vicky nach einigen Tanzrunden.
»Klar«, sagt Nick und holt eine Flasche vom Balkon. Dann kann ich ja auch wieder mit dem Rauchen anfangen, denkt Elsa und ist kurz davor, Zigaretten holen zu gehen. Vicky schaut immer wieder auf die Uhr. Elsa weiß, dass sie auf Jonas wartet. Er war und ist nun mal ihr Liebling, der Musiker der Familie.
Als es endlich um kurz vor zehn klingelt, steht Jonas mit zwei Freunden und Instrumentenkoffern vor der Tür. Die drei stellen sich im Wohnzimmer auf und spielen Tanzmusik der Zwanziger und Dreißiger. Den schönen Song vom Lenz, der da ist, haben sie auf das
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