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Torstraße 1

Torstraße 1

Titel: Torstraße 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sybil Volks
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vielleicht ist auch das nur eine Frage der Perspektive. Elsa schließt die Augen, öffnet sie wieder und zoomt das Haus in die Zukunft. Dann wird Honecker tot sein, und sie selbst wird tot sein, aber nicht nur die Mauer, auch das Haus wird noch stehen. Es hat das Tausendjährige Reich überstanden, die Bomben überstanden. Da wird es auch die Mauer überstehen, bis sie einst fällt. Noch einmal schließt und öffnet sie die Augen und holt das Haus wieder näher heran. Wenn sie es von hier aus betrachtet, nicht zu weit entfernt, doch mit Abstand, hat es trotz allem seine Kraft und Würde bewahrt. Wie ein Mensch mit starken, wohlgeformten Knochen, dem weder Krankheit noch Alter die Schönheit stehlen.
    Plötzlich tritt Bernhard aus dem Gebäude. Und an seiner Seite sie selbst. Elsa fasst nach der Mauer in ihrem Rücken. Nein, es ist bloß eine Frau, die ihr auf den ersten Blick ähnlich sieht. Oder vielmehr der Frau, die sie vor zehn, fünfzehn Jahren gewesen ist. Das muss Elisa sein, von der Bernhard ihr geschrieben hat. Getroffen hat sie diese Frau noch nie, die einen Buchstaben und einen Bernhard mehr besaß als sie und einige Lebensjahre weniger. Es wird höchste Zeit. Sie sollte hingehen und ihr die Hand schütteln. Mit den beiden einen Kaffee trinken und plaudern. Das, was sie mit Bernhard besprechen wollte, wegen Luise und Uwe und Jonas, das wird kein Geheimnis sein vor Elisa.
    Sie sieht die beiden über den Bürgersteig gehen und bleibt auf ihrem Platz, sieht sie um die Ecke biegen und bewegt sich keinen Schritt. Erst als sie verschwunden sind, löst sie sich von der Mauer des Friedhofs und läuft in entgegengesetzter Richtung die Prenzlauer Allee entlang. Immer schneller Richtung Norden,ohne sich umzuwenden. Er hätte nicht mit der anderen Frau aus dem Haus kommen dürfen. Aus ihrem Haus.
    Klack. Ihr Band ist abgelaufen. Mitten im Satz ist Schluss. Sie war fast fertig, aber jetzt weiß sie nicht mehr, wie sie es zu Ende bringen wollte. So wird es auch mit meinem ganzen Leben sein, denkt sie. Bei irgendetwas wird mich der Tod unterbrechen, klack, und das war’s dann, Verlängerung gibt’s nicht. Und seltsam, auf einmal erscheint ihr das gar nicht mehr schlimm.
    Für manche Dinge wird die Zeit nicht mehr reichen, zum Beispiel, um eine neue Leerkassette zu besorgen. Dann ist die Geschichte eben hier zu Ende, genau in dem Moment, als ihr auf der Dachterrasse des Jonass das Glas aus der Hand fiel. Da endet die rückwärts erzählte Geschichte, die sie nur vom Ende abgewickelt bekommen hat, kurz nach Elsas Geburt. Das ist ja auch die Hauptsache für Elsa. Doch das andere Band, auf dem sie mit Harry gesprochen hat, anstatt die Geschichte für Elsa zu erzählen, das muss weg, das soll niemand finden. Wegwerfen will sie es auch nicht. Das will sie für sich behalten. Sie weiß bloß noch nicht, wie.
    Ihre Kehle ist rau und trocken wie Schmirgelpapier. Wie lange hat sie hier gesessen und erzählt und erzählt, ohne Pause, aus Angst, den Mut nicht noch einmal aufzubringen, den Faden nicht wiederzufinden? Waren es Minuten, Stunden, Tage? Sie geht ans Fenster, zieht den Vorhang zur Seite, am Horizont zeichnet sich ein schmaler roter Streif ab. Die ganze Nacht ist sie kein einziges Mal aufgestanden, nicht zur Toilette gegangen, hat nichts gegessen, nichts getrunken; sie musste nichts und wollte nichts. Wie oft hat Dr. Sachs sie ermahnt, genug zu trinken, auf gar keinen Fall zu dehydrieren, verdicktes Blut, das sei Gift für ihr Herz. Ebenso Alkohol. Wasser, Wasser und nochmals Wasser, hat sie wiederholt und ihr dabei eindringlich in die Augen gesehen. Sie trinkt sowieso nur noch Wasser, wennsie etwas trinkt. Seit dem Geburtstag hat sie keinen Wein oder Sekt mehr angerührt. Es war schön, diesen einen Abend, es war berauschend, und es war vorbei.
    Nicht nur Alkohol ist berauschend und Gift für ihr Herz, auch ein Lied kann diese Wirkung haben, ein Lied voll hochprozentiger Erinnerung. Wie die Platte, die Harry ihr zum Abschied geschenkt hat. Sie streicht über den Trichter des Grammofons, das nach Jahrzehnten im Schrank nun seit ihrem Geburtstag offen auf der Truhe steht. Ein letztes Mal darf sie am Ende dieser Nacht zur Nadel greifen, ihre Welt geht ohnehin unter. Behutsam setzt sie die Nadel auf, es kratzt und knirscht ein wenig, dann ertönt das letzte Lied: »Auf Wiederseh’n mein Fräulein, auf Wiederseh’n mein Herr. Es war uns ein Vergnügen, wir danken Ihnen sehr. Dieser Abend war so reizend und so wunder-,

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