Torstraße 1
wunderschön. Wann kommen Sie wieder? Wann kommen Sie wieder? Damit wir uns wiederseh’n!«
Er, der seine Heimat, seine Arbeit, seine Freunde, sein ganzes Leben hinter sich ließ, hat zum Abschied ihre Tränen getrocknet. Hat sich ihr Versprechen angehört, dass er sein Elternhaus heil zurückbekommen werde – »wenn ihr wiederkommt«. Ohne zu lachen, hat er sie angehört, hat nur gelächelt, doch nicht über sie, sondern über sie hinweg und in die Ferne. Er hat gewusst, dass ihr Versprechen ein leeres Versprechen war. Und er ist nie zurückgekommen, zu ihr nicht und nicht in die alte Welt. Wird auch nicht mehr kommen. Wird sich nicht noch einmal von ihr verabschieden. »Wenn wir wiederkommen«, waren seine letzten Worte für sie gewesen, und mit einem flüchtigen Kuss auf die Stirn war er fort. »Auf Wiedersehen, Vicky.«
»Auf Wiedersehen, Harry.« Sie packt die alte Platte wieder in ihre Hülle, stellt sie zwischen die anderen. Dann nimmt sie die Kassette mit den Worten an Harry, mit all dem »Weißt du noch« und »Erinnerst du dich«, und geht damit in die Küche, an den Esstisch am Fenster. Sie zieht das Band heraus, ein graubrauner,zerknitterter Streifen, auf dem ihre Worte keine Spur hinterlassen haben. Den letzten Rest reißt sie mit einem Ruck heraus, legt das Band auf einen Teller und zerschneidet es mit einer Schere in immer kleinere Stücke.
Es ist ein ungewöhnlich warmer Tag für April. Blauer, makelloser Himmel. Bäume, Blumenkränze, die schwarzen Kleider im flimmernden Sonnenlicht, alles plastisch und überdeutlich wie durch ein Vergrößerungsglas. Die Sargträger haben gerötete Nacken, verschwitzte Haare unter den Zylindern. Sie bewegen sich in Zeitlupe. Dabei ist Vicky so leicht gewesen am Ende.
Die tote Mutter auf einem weißen Leintuch. In einem langen weißen Hemd. Überall stachen die Knochen hervor, Rippen, Beckenknochen, Knie. Eingefallene Wangen, tiefe Augenhöhlen. Jetzt wird sie immer dieses Bild vor Augen haben, doch sie wollte ihre Mutter ein letztes Mal sehen. Um sich von ihr zu verabschieden. Damit sie es glauben konnte. Oder beides. Denn trotz allem war es für sie überraschend gekommen. Auch wenn Vicky über achtzig war, mit den üblichen Blessuren des Alters, in letzter Zeit kurzatmig und schnell erschöpft, war sie ihr bis zuletzt zäh erschienen an Leib und Seele, wie eine, die noch lange durchhält. Wäre da nicht jener Geburtstag gewesen. »Die einen kommen, die anderen gehen.« Dieser Satz geht ihr nicht aus dem Kopf. Der letzte Satz, den sie aus dem Mund ihrer Mutter gehört hat.
Der Weg bis zum Grab scheint kein Ende zu nehmen. Es ist ein großer Friedhof mit alten Bäumen und monumentalen Grabstätten ganzer Familien, von gusseisernen Gittern umgeben. Schweigend trotten sie den Sargträgern hinterher, und in die Stille hinein schmettern die Vögel dem Frühling und ihrer Brut entgegen. In erster Reihe hinter dem Sarg gehen neben ihr Klaus und Werner. Beide Brüder tragen dunkle Sonnenbrillen, sie kann nicht sehen, ob einer von ihnen geweint hat. Werner,der die ganze Nacht durchgeflogen ist von New York nach Berlin, sieht aus, als schwebe er noch immer weit über den Wolken. »Wenn ich das gewusst hätte«, hat er am Telefon gestammelt, »wäre ich doch zu ihrem Geburtstag gekommen.«
Auch Klaus kann von diesem Geburtstag nicht lassen. »Verzeih mir«, flüstert er neben ihr, und nun fließt doch eine Träne unter der dunklen Brille hervor, »verzeih mir, hat sie gesagt, und ich wusste doch gar nicht, wofür.«
Dafür, dass sie dich nie geliebt hat, denkt Elsa, doch das kann sie ihrem Bruder nicht sagen. Und das kann man seiner Mutter wohl auch nicht verzeihen. Aber da Vicky so sehr daran gelegen war, Klaus noch einmal zu sehen und ihn um Verzeihung zu bitten, und das wollte bei ihrer Mutter etwas heißen, hat sie ihn vielleicht doch geliebt, irgendwie? Was wusste sie schon von Vicky.
So fern ihr beide Brüder ein Leben lang gewesen sind, so richtig fühlt es sich an, nun die beiden und niemand anderen an ihrer Seite zu haben. Bernhard vielleicht. Auch Bernhard wäre hier richtig an ihrer Seite, denkt Elsa und spürt, wie sehr er ihr in diesen Tagen fehlt. Hinter ihr und den Brüdern gehen Elsie, Ferdinand und Hanns, gefolgt von Stephanie und Nick, Jonas, Sabine und den Kindern. Nur diese kleine Familie ist gekommen, keine Freundinnen und früheren Kolleginnen, keine Bekannten und Nachbarn, obwohl Vicky über vierzig Jahre in derselben Wohnung gelebt hat. Aber
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