Torstraße 1
auch in ihrem Haus war man stets gekommen und gegangen.
Elsa will nicht, dass der Weg bis zum Grab ein Ende nimmt. Sie fürchtet sich entsetzlich vor dem Moment, da die Kiste mit ihrer Mutter in der Grube versenkt wird, ihr Körper in der kalten Erde für immer verschwindet. Es folgt eine weitere Biegung, dann geht es den Hang hinauf; die Sargträger beugen sich tief unter der Last, doch es ist keine Grube in Sicht. Vielleicht war dies ein verwunschener Friedhof, auf dem die Trauernden jahrelanghinter den Trägern trotteten, auf Kieswegen unter hohen Bäumen, die grün wurden und bunt, kahl und wieder grün; Trauernde, die die Zeit vergaßen und bald auch die Trauer, für die es ohne die Zeit keinen Grund gibt. Immer weiter hätte sie so gehen mögen, auf dem knirschenden Kies und unter dem Rauschen der Blätter, solange Vicky nur bei ihnen war.
Die Träger bleiben plötzlich stehen vor einer offenen Grube, die sie nicht hat kommen sehen. Vorsichtig stellen sie den Sarg auf die Erde. Im Halbkreis stehen die Trauernden vor dem Grab, der Pfarrer beginnt zu sprechen. Sie kann den Blick nicht von dem Eimer mit Sand und Schaufel wenden. Eine Schaufel Sand für jeden von ihnen, für diese kleine, unvollständige Familie. Die Wurzeln zu Vickys Heimat waren gekappt, es hatte nie eine Versöhnung mit der Mutter und den Geschwistern gegeben. Und der Anlass für dieses Zerwürfnis war sie selbst gewesen, das uneheliche Balg, die Schande. Sie geht ans andere Ende des Halbkreises zu ihrer Tochter und fasst nach Stephanies Hand, die sich warm und lebendig anfühlt. Eine solche Geschichte soll sich in ihrer Familie nicht wiederholen.
Die Rede ist zu Ende, der Sand geworfen. Elsa tritt noch einmal an Vickys Grab, im Arm einen dicken Strauß Ranunkeln in zart leuchtenden Farben. Langsam wirft sie eine nach der anderen hinab, und die goldgelben, rosafarbenen und purpurroten Blumen fallen lautlos auf den Sarg.
Elsa dreht den Schlüssel im Schloss und schiebt langsam die Tür auf. Die Wohnung sieht so anders aus als beim letzten Mal, als sie hier war. Leer und verlassen, obwohl sie noch gar nichts ausgeräumt haben. An Vickys Geburtstag waren die Räume gefüllt mit Menschen und Leben, Schüsseln und Flaschen, Blumen und Musik. Vielleicht ist es deshalb nicht aufgefallen, dass auch da schon einige Sachen fehlten. Aber jetzt, wenn sie sich an den Abend erinnert, sieht sie die leeren Ecken und Flecken vor sich,wo zuvor ein Tischchen gestanden hatte, eine Lampe oder ein Topf mit einer Zimmerpflanze.
Sie geht durch die Räume der kleinen Wohnung, in der sie nach dem Krieg ein paar Jahre mit der Mutter und den Brüdern gewohnt, in der Vicky lange allein gelebt hat, dann mit Leo, dann wieder allein. Flur, Wohnzimmer, Bad, Schlafzimmer – inzwischen haben sie sich weiter ausgebreitet, die leeren Ecken und Flecken. Jetzt sieht die Wohnung aus wie das Zuhause von jemandem, der mitten im Umzug steckt. Die Dinge, die man weder mitnehmen noch verschenken will, sind fortgeschafft, der persönliche Kleinkram auch. Geblieben sind Sofa, Sessel und Schränke und die wenigen Besitztümer, von denen Vicky geglaubt haben muss, dass jemand von ihnen sie behalten möchte. So wie die Schmuckschatulle, die im Schlafzimmer auf der Kommode neben dem Bett steht, während sie vorher immer weggeschlossen war.
Elsa öffnet die Schatulle, eine Uhr liegt darin, drei Ketten, eine Brosche, zwei Eheringe. Und ein kleines Kästchen, auf dem in der Handschrift ihrer Mutter, der man das abtrainierte Sütterlin noch ansieht, »für Elsa« steht. Im Kästchen, auf Samt gebettet, ein Paar goldene Ohrringe mit Smaragden. Sie legt die Ohrringe vorsichtig auf die Handfläche, schön sind sie und vermutlich kostbarer als alles, was Vicky sonst besessen hat. Trotzdem ist sie enttäuscht, weil sie sich nicht erinnern kann, die Ohrringe je an ihrer Mutter gesehen zu haben. Prächtig stellt sie sich die Smaragde vor zu Vickys grünen Augen. Wer hat sie ihr geschenkt? Gerd Helbig traut sie dieses Geschenk ebenso wenig zu wie Leo. Zu oft hatten die beiden Geschenke ausgesucht, die zwar schön und manchmal auch teuer waren, aber nicht zu Vicky passten. Diese Ohrringe passten perfekt, wie für Vicky gemacht sehen sie aus. Warum hat sie sie nie getragen? Elsa legt die Schmuckstücke behutsam zurück in die Schatulle. Offenbar lag ihrer Mutter daran, dass sie diese Ohrringebekam und niemand anders. Sie enthielten eine Botschaft, doch den Schlüssel hatte Vicky nicht mitgeliefert. Wie
Weitere Kostenlose Bücher