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Torstraße 1

Torstraße 1

Titel: Torstraße 1
Autoren: Sybil Volks
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so oft.
    Elsa steht vor dem Bett ihrer Mutter, streicht über die Tagesdecke, die faltenlos über Oberbett und Kissen gebreitet ist. Vicky ist nicht im Schlaf gestorben, und sie ist in der Nacht vor ihrem Tod nicht ins Bett gegangen. Niemand wird je wissen, was sie frühmorgens am Küchentisch gemacht hat, unter dem sie lag, als Elsie sie am Abend fand. Die Küche. Als sie vor der verschlossenen Tür steht, die Klinke in der Hand, weiß sie, dass sie es nicht schafft, diesen Raum allein zu betreten, in dem ihre Mutter allein gestorben ist.
    »Danke, dass du gekommen bist.« Sie umarmt Elsie. »Macht es dir wirklich nichts aus, mir alles zu erzählen … von diesem Tag?«
    Elsie geht voran in die Küche. »Doch, es macht mir etwas aus. Aber es tut auch gut. Setz dich«, sagt sie und weist auf einen der Stühle am Küchentisch.
    Elsa zögert, bevor sie Platz nimmt. Elsie kocht Kaffee, dann setzt sie sich ihr gegenüber.
    »Von diesem Stuhl ist sie gekippt«, sagt Elsie, deutet auf den freien Stuhl am Kopfende und fügt nach einem Blick in Elsas Gesicht hinzu: »Aber es hat ihr nicht wehgetan, da war sie schon tot. Sie ist ganz plötzlich gestorben, wie man es sich in unserem Alter nur wünschen kann. Herzversagen.«
    Elsa schenkt sich aus der Kaffeekanne ein. Seltsam ist das, hier in Vickys Küche ohne Vicky Kaffee zu trinken. »Aber hatte sie denn etwas am Herzen? Ich wusste gar nicht …«
    Elsie nimmt ihre Hand. »Sie wollte nicht, dass ihr euch Sorgen macht. Großer Unsinn, wenn du mich fragst, aber so war sie nun mal. Ja, sie war schon länger herzkrank, und natürlich war ihre Leber auch nicht in Ordnung, aber daran ist sie nicht gestorben.«
    Elsa denkt an den Geburtstag. Im Nachhinein erscheint ihr alles so offensichtlich. Vickys Benehmen, der Alkohol, die Sache mit Klaus, ihr Orakel zum Abschied. Ganz dumm kommt sie sich vor, dass sie es nicht kapiert hat. Dass sie zu beschäftigt war mit anderen Sorgen, um der Beunruhigung, die sie bei dieser letzten Begegnung mit ihrer Mutter fühlte, auf den Grund zu gehen. Sie senkt den Kopf und fragt leise: »Wusstest du, dass sie stirbt?«
    »Nein, ich wusste es nicht. Aber sie selbst hat es gefühlt, schon einige Zeit, dass sie nicht mehr lange zu leben hat. Zuerst wollte ich nichts davon wissen, aber spätestens an ihrem Geburtstag habe ich ihr geglaubt.« Elsie fährt sich durch die weißen Haare. »Nein, schon vor dem Geburtstag. Als wir beide vor dem Grab standen, Vicky und ich.«
    Beim Gedanken an das vorbestellte Grab, die halb ausgeräumte Wohnung, die vorsortierten Gegenstände schnürt es Elsa die Kehle zu. Wieder einmal hat ihre Mutter sie ausgeschlossen, wie immer, wenn es um Leben und Tod ging. Sie ist doch kein kleines Kind mehr. Und selbst ein Kind hat ein Recht auf die Wahrheit. Sie schaut Elsie in die Augen.
    »Klar, du hast es natürlich gewusst. Ihre Kinder dagegen … Was brauchen die schon Bescheid zu wissen. Ob ihre Mutter stirbt, ob sie geliebt werden. Wer ihr Vater ist …« Sie stößt ihre Tasse um. Elsies Arm schnellt nach vorne, um den Fall aufzuhalten, doch ein Schwall heißen Kaffees läuft über ihre Hand. Über ihr Handgelenk. Ausgerechnet über Elsies Handgelenk.
    »Tut mir leid!«, rufen beide zugleich.
    Dann sagt Elsie, während Elsa aufspringt und ihr ein Tuch reicht: »Ja, es tut mir wahrhaftig sehr, sehr leid, Elsa. Ich weiß nicht, ob du’s mir verzeihen kannst. Doch ich musste ihr versprechen zu schweigen. Hab es nicht verstanden – anfangs ja, aber später nicht mehr. Doch ein Versprechen ist ein Versprechen. Wir haben uns beinahe darüber zerstritten, mehr als einmal.Sie konnte so verdammt stur sein, deine Mutter. Aber vergiss nie, sie hat es aus Liebe getan, Elsa. Aus Liebe zu dir.«
    Ihre Blicke begegnen sich, beide haben Tränen in den Augen. Eine Weile ist nichts zu hören als das Ticken der Küchenuhr, bis Elsa das Schweigen bricht: »Dann kannst du’s mir jetzt sagen. Vicky ist tot. Ich lebe.«
    Elsie legt einen Arm auf die Lehne des leeren Stuhls am Kopfende. »Ich bin sicher, sie hat es dir selbst gesagt. Irgendwie. Irgendwo«, sagt sie und lässt ihren Blick durch den Raum schweifen.
    Das Ticken der Küchenuhr kommt Elsa laut vor, unnatürlich laut und unregelmäßig. Wie ein aus dem Rhythmus geratenes Herz. Ihre Stimme dagegen ist kaum hörbar, als sie fragt: »In der Nacht, als sie gestorben ist – hat sie das geplant? Hat sie etwas eingenommen oder so?«
    Elsie schüttelt den Kopf. »Das glaube ich nicht. Als ich
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