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Torstraße 1

Torstraße 1

Titel: Torstraße 1
Autoren: Sybil Volks
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sie gefunden habe … Ich hab sofort den Notarzt gerufen. Im Grunde wusste ich, dass sie tot war, aber … vielleicht hab ich auf ein Wunder gehofft, dass man sie noch retten könnte. Das war ein Fehler. Sie haben sie sofort zugedeckt, in den Krankenwagen verfrachtet.« Elsie schluckt. »Wäre Dr. Sachs gekommen, hätte sie vielleicht erlaubt, dass Vicky zu Hause bleibt, in ihrem Bett. Wir hätten uns in Ruhe von ihr verabschieden können.«
    Die tote Mutter, aufgebahrt auf einem weißen Leintuch. Unter dem Stoff des Totenhemds hervorstechende Rippen, eingefallene Wangen und Augenhöhlen. Elsa versucht, das Bild abzuschütteln.
    »Was hat sie denn am frühen Morgen am Küchentisch gemacht? War sie angezogen? Hat sie etwas gegessen?«
    Elsie schaut an Elsa vorbei auf den Stuhl am Kopfende des Tisches. »Ja, das war seltsam. Sie hatte ihr Lieblingskleid an, das violette, und ihre geliebte alte Strickjacke. Ihr Bett war nicht angerührt. Vielleicht konnte sie einfach nicht schlafen, daskommt vor in unserem Alter. Auf dem Küchentisch stand ein leerer Teller, eine Schere lag darauf, sonst nichts. Sie war stark dehydriert, haben die Ärzte gesagt. Das war natürlich Gift für ihr Herz. Sonst haben sie nichts Verdächtiges gefunden. Aber man hat ja auch nicht weiter danach gesucht. Warum auch?«
    Ja, warum auch. Eine über achtzigjährige Frau mit Herzproblemen, die starb eben früher oder später, da handelte es sich nicht um Mord oder Selbstmord, da brauchte man nicht den Mageninhalt zu prüfen oder nach Indizien zu suchen. Aber etwas Verdächtiges gab es doch. Seit einiger Zeit schon und besonders, seit sie hier in der Wohnung ist, kann Elsa das Gefühl nicht loswerden, dass etwas nicht stimmt. Ganz und gar nicht stimmt. Und heute wird sie ihr nachgehen, der Beunruhigung, nachgehen durch die Zimmer.
    Als Elsie wieder fort ist, wandert sie durch die Räume. Was war das für ein Lied … ein Lied, das ihr vorhin durch den Kopf ging? Die Kinder, denkt sie, Abendbrot vor dem Fernseher. Daran hat es mich erinnert. Kinderfernsehen. Auf einmal ist das Lied wieder da. »Eins von diesen Dingen gehört nicht zu den andern«, singt sie leise, wandert weiter, schaut sich ganz genau um. Im Wohnzimmer bleibt sie vor dem Kassettenrekorder stehen.
    Der vertraute Geruch nach Chemikalien tut gut. Es fällt Elsa schwer, sich auf die Bilder zu konzentrieren, die freudige Erwartung auf das, was zum Vorschein kommen mag, stellt sich nicht ein. Doch die eingespielten Handbewegungen beruhigen. Sie hätte nicht ins Studio kommen müssen, Torsten hat ihr angeboten, den Laden alleine zu führen, bis sie sich besser fühlt. Heute Morgen, als sie unangekündigt und mit verweinten Augen zur Ladentür hereinkam, hat er sie mit sanfter Stimme gefragt, ob sie sicher sei … Ganz sicher, hat sie gesagt und ist gleich nach hinten durch ins Labor gegangen. Kunden möchte sie heutenicht bedienen. Alle würden glauben, ihr Beileid bekunden zu müssen, glauben, sie habe aus Trauer um ihre Mutter geweint. Wenn es doch so einfach wäre.
    Im Kopf hört sie wieder die ersten Sätze vom Band, Vickys Stimme, die das dunkle Wohnzimmer erfüllte wie ein Geist. »Dieser heiße Tag im Juli 1970, das war das letzte Mal, dass ich ihn gesehen habe. Ich ihn, er mich nicht. Fast wäre ich vor Angst gestorben auf der Reise, allein in Amerika. Aber ich musste das tun. Alleine tun. Er war doppelt so alt wie damals, als er Deutschland verlassen hat, seine dunklen Haare waren grau geworden, doch ich hab ihn sofort erkannt. Hab sein Lachen gehört, bevor ich ihn sah, hinter der Hecke des Grundstücks versteckt. Er spielte Federball mit einer jungen Frau, die ihm sehr ähnlich sah, und auf der Terrasse des Hauses stand eine Frau, die mir ein bisschen ähnlich sah, nur jünger. Ich war so glücklich hinter meiner grünen Hecke, dass er noch lebte, sein Lachen noch lebte. Dann drehte ich mich um und machte mich auf den Heimweg.«
    Zuerst hat sie gar nicht verstanden, von wem und wovon die Rede war. Erst nach und nach, während sie auf dem Teppich vor dem Rekorder kniete, hat sie begriffen, was für eine Geschichte ihre Mutter erzählte, vom Ende bis zum Anfang.
    Nun weiß sie es also. Wenn man es erst einmal weiß, erscheint es so sonnenklar. Und sie hatte Jahrzehnte im Nebel gestochert, so ziemlich alle in Betracht gezogen außer Harry. Selbst seinen Vater hatte sie verdächtigt, Heinrich Grünberg, den Kaufhausbesitzer. Wie oft kam so etwas vor, die junge Angestellte, der
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