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Torstraße 1

Torstraße 1

Titel: Torstraße 1
Autoren: Sybil Volks
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sie erstaunt an. »Wofür?«
    Sie legt eine Hand auf den Arm ihrer Enkelin. »Für das Taschentuch. Als ich in der Kapelle weinen musste, geschnieft hab und alle Taschen durchwühlt. Keiner hat das bemerkt außer dir. Das war so wichtig in diesem Moment, viel mehr als ein Taschentuch …«
    Katia lächelt sie an, stolz und glücklich. Jetzt bloß nicht wieder heulen. Nein, sie will jetzt nicht. Da kommt es ihr gerade recht, dass Hanns im Nebenzimmer den Fernseher einschaltet. Dort wird über den Aufruf zum Wahlboykott in der DDR berichtet. Darüber, dass bekannte Oppositionelle und Nichtwähler vorangegangener Wahlen aus den Wählerlisten gestrichen werden. Und darüber, dass bereits seit Januar Ausreisewillige in die Bundesrepublik entlassen wurden, von denen man annahm, sie könnten öffentlich gegen die Wahlen mobilisieren.
    »So kommt man auch auf seine neunundneunzig Prozent«, murmelt Jonas. Dann atmet er plötzlich tief ein und springt auf. »Verdammt, die Pizza!«
    Das Gefühl hat sie nicht getrogen. Ihr Gefühl, dass die Kassette nicht alles war, was es zu entdecken gab in dieser Wohnung. Vom Kassettenrekorder war es nur ein folgerichtiger Schritt zum Grammofon. Mehrmals hat sie die alte Platte gehört, die noch darauflag. Doch auch wenn das letzte Lied sie zum Weinen brachte, konnte sie seine Botschaft nicht enthüllen. »Auf Wiederseh’n mein Fräulein, auf Wiederseh’n mein Herr«. So ist sie von der Platte zu ihrer leeren Hülle gekommen. Tief in derPlattenhülle stoßen ihre Finger auf Papier. Ein Brief! Endlich wieder einmal ein Brief, der es wert ist, mit zitternden Fingern entfaltet, mit zitternder Stimme gelesen zu werden.
    Franklin, 11. Januar 1989
    Liebe Vicky,
    ich erlaube mir, Sie in diesem Brief bei dem Namen zu nennen, bei dem mein Bruder Harry Sie genannt hat.
    Kaum wahrscheinlich, dass Sie sich an mich erinnern. Ich war das kleine, dicke Mädchen, das manchmal in Papa Heinrichs Büro kam, um die Schubladen nach Süßigkeiten zu durchwühlen. Ich erinnere mich sehr wohl an Sie. Bei der Eröffnungsfeier unseres Jonass hatten Sie einen kugelrunden Bauch, und zwar einen verbotenen, so viel hatte ich mit meinen zehn Jahren schon mitbekommen. Auch wenn ich damals nicht wusste, wie man an so einen verbotenen Bauch kommt, fand ich das und damit auch Sie schrecklich aufregend. Außerdem hat Frau Kurz (der Drache vom Vorzimmer, Sie erinnern sich?) Sie wegen dieses Bauches verabscheut, und alles, was die Kurz verabscheute, fand ich erstrebenswert. Vielleicht war es auch die Solidarität der dicken Bäuche, die mich mit Ihnen verband, wenn auch nur für kurze Zeit. Denn bald schon war Ihr verbotener Bauch einem verbotenen Baby gewichen, mit dem Sie ins Kontor von Papa Heinrich hereinspazierten, weshalb die Kurz fast einen Herzschlag bekam. Ich dagegen fand das Baby so süß, dass ich für eine Weile sogar die Schokolade in meiner Hand vergaß. Doch dass in diesem süßen Baby, das Papa Heinrich am Schnurrbart zog, verwandtes Blut floss, ahnten weder Papa noch ich.
    Mein Bruder Harry war ein Dickschädel vor dem Herrn. Gott oder Jahwe, das macht hier keinen Unterschied. Stellen Sie sich vor, er hat uns diese Tochter, dieses süße Baby, das jetzt schonlange eine Frau sein muss, bis an sein Lebensende verschwiegen. Harry ist vor einem halben Jahr gestorben, vier Jahre nach seiner Frau Lorraine und ein Jahr nach unserer Schwester Carola. Die ist übrigens eine in den Staaten (unter dem Namen Greenberg, wie wir hier heißen) bekannte Fotografin geworden.
    Kurz nach dem Krieg hatte sie eine Ausstellung in Berlin. Danach wollte sie nie wieder nach Deutschland. Überall kommen die alten Nazis wieder an die Macht, hat sie gesagt. Sie war sogar froh, dass unser Jonass im sowjetischen Sektor stand, obwohl wir weiß Gott keine Kommunisten waren. Ich erinnerte sie daran, dass wir es so ganz bestimmt nicht zurückbekommen würden, aber sie sagte nur, Hauptsache, die Nazis sind raus. Und zu meinem Erstaunen stimmte Harry ihr zu.
    Beide waren ziemlich verbittert, seit unser Vater kurz nach der Ankunft in Amerika gestorben ist. Kein Arzt konnte sagen, woran. Unsere Mutter hat in den Staaten nie Fuß gefasst. Als Papa gestorben ist, wollte sie mit uns zurück nach Berlin. 1939! So hat sie an der alten Heimat gehangen. Erst später, nachdem sie erfahren hat, dass diese Heimat all ihre Geschwister und Cousinen ins Gas geschickt hat, nahm sie das Wort Deutschland nie wieder in den Mund. Und auch kein deutsches Wort mehr,
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