Torstraße 1
verheiratete Chef. Der Standesunterschied, Ehebruch, Skandal … Grund genug für Geheimniskrämerei. Aber keine Sekunde hatte sie an Harry gedacht. Das war doch noch ein Junge, ein lustiger großer Junge, der manchmal ihre Mama besuchte, als sie selbst noch ganz klein war. Onkel Alli, der pfeifend die Treppe hochkam, mit Süßigkeiten in den Jackentaschenund Schallplatten unter dem Arm. Onkel Alli, der sie zur Musik durchs Zimmer schwenkte, bis er sie plötzlich irgendwo absetzte und mit Mama im Arm weitertanzte. Seine Besuche waren kurz und lustig, und wenn er gegangen war, ging etwas später meist auch die Mama. Mein Gott, war sie blind und blöd gewesen. So blind, wie nur ein Kind sein kann, für das die Mama eine Heilige ist und ein Vater ein Mann mit Bart, Brille und Beruf – ein Kind, das sich genau so einen Vater wünscht, einen richtigen, einen erwachsenen Vater.
Einmal, daran erinnert sie sich jetzt, war ihre Mutter nachts nicht nach Hause gekommen. Sie war wach geworden, es war tiefschwarze Nacht, sie hatte geweint und nach Mama gerufen, aber die Mama war nicht da. Oma Chaja war da und wollte sie trösten, doch sie ließ sich nicht trösten, sie schrie und schrie. Arme Oma Chaja. Wer hätte sie trösten können? Mama war tot. Mama hatte sie verlassen. Seltsam, dass sie sich daran plötzlich so deutlich erinnert. An die viel zu großen Gefühle, die ihren kleinen Körper schüttelten. Sehnsucht, Wut, Verlassenheit – Todesangst.
Elsa geht aus der Hintertür in den Hof, stellt sich in den schmalen Streifen Sonne, der über die Mauer fällt, und zündet eine Zigarette an. Das Päckchen, das sie sich gestern Nacht geholt hat, ist halb leer. Beim ersten Zug hatte sie husten müssen, doch jetzt geht es wieder so gut wie zuvor. Tief inhaliert sie den Rauch. Ihre Mutter war wiedergekommen in jener Nacht, hatte nach Qualm gerochen und Parfüm, nach Mann und Schnaps, aber das wusste sie damals noch nicht. Und sie wusste auch nicht, warum Onkel Alli bald nicht mehr zu Besuch kam und später für immer verschwand. Nun ist auch Vicky für immer verschwunden. Mama ist tot. Mama hat sie verlassen.
Zurück im Labor, während sie die Gesichter fremder Menschen ans Licht bringt, versucht sie sich an Bilder von Harry zu erinnern. An das Gesicht ihres Vaters. Doch so tief sie auchgräbt, sie findet nicht mehr als diese verwackelten Schnappschüsse, ein lachendes Gesicht, das sich mit ihr im Kreis dreht.
Am Abend verschließt Elsa ihr Studio und fährt nach Lübars. In der letzten Nacht hat sie in Vickys Wohnung geschlafen, in Vickys Bett. Sie wollte, nachdem sie das Band gehört hat, allein sein mit dieser Geschichte, mit Vickys Stimme im Ohr, Vickys Geist. Jetzt freut sie sich auf Hanns und auf Jonas, Sabine und die Kinder, die gemeinsam das Wochenende in Lübars verbringen. Jonas und Sabine wollen es noch einmal miteinander versuchen. Schon auf der Beerdigung ist ihr aufgefallen, wie die beiden Hand in Hand gingen. Vielleicht hat der Tod ein paar Dinge zurechtgerückt.
Zur Begrüßung drückt Hanns sie fest an sich, so fest, dass ihr fast die Luft wegbleibt. Dann hält er sie ein kleines Stück von sich und schaut ihr ins Gesicht. »Ist etwas passiert?« Sie gibt ihm einen Kuss und macht sich los. Später wird sie es ihm erzählen, nicht jetzt.
»In Ordnung«, sagt Hanns, »erzähl’s mir später.«
Jonas schiebt in der Küche ein Blech in den Ofen. Er hat mit Katia und Tobias Pizza gemacht. Auf Tobias’ Stücken ist außer Tomatenmark nicht viel geblieben, der Belag ist gleich in seinen Mund gewandert. Jonas streift die mehlbestäubten Hände an der Jeans ab, bevor er sie ihr entgegenstreckt. »Luise und Uwe sind wieder frei«, sagt er, »das Verfahren ist eingestellt.«
Elsa nickt. »Gott sei Dank.«
»Ja«, sagt Jonas, »die wollten sich’s wohl nicht zu sehr mit der Kirche verderben, die beiden sind sehr beliebt in der Gemeinde. Dann unsere Intervention aus dem Westen, die Unterschriftenaktion, Stephanies Pressekontakte. Und ich denk mal, Bernhard hat sich auch für sie eingesetzt. Oder seine Schwester. Ihr Mann von der Firma, du weißt schon.« Jonas gestikuliert mit seinen noch immer weiß bestäubten Händen.
Sabine unterbricht ihn. »Deine Mutter hat jetzt andere Sorgen. Lass sie doch mal in Ruhe mit der Politik.«
Jonas wirft ihr einen Blick zu. »Du meinst wohl, lass mich in Ruhe.«
Elsa lässt die beiden stehen und geht zu Katia, die ihre Eltern vom Tisch aus beobachtet. »Danke.«
Katia schaut
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