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Torstraße 1

Torstraße 1

Titel: Torstraße 1
Autoren: Sybil Volks
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obwohl ihr Englisch eine Katastrophe war.
    Carola hat immer gesagt, Helbig und Co. haben unsere Eltern umgebracht, als sie Papa das Jonass genommen haben und Mama die Heimat und das Haus. Auch Ihnen hat sie nie verziehen, dass Sie Helbig geheiratet haben und in unser Haus gezogen sind. Da ist Harry immer sehr wütend geworden und hat erwidert, dass er es so wollte und froh darüber ist. Wir wussten ja nicht, dass er froh war, weil sein Kind in unserem Haus leben und im Jonass spielen konnte, wenn wir schon fortmussten. Es tut mir leid, dass Carola nicht mehr erfahren hat, dass Elsa Harrys Tochter ist. Vielleicht hätte sie die Sache dann in etwas anderem Licht gesehen. Und ich denke, Lorraine hättedie Geschichte auch verkraftet, obwohl sie, was Harry betraf, ziemlich eifersüchtig sein konnte. Ich weiß nicht, warum, aber ich habe Ihnen gegenüber nie Verbitterung empfunden. Vielleicht war ich dazu damals zu kindisch, und vermutlich ist das auch heute noch so.
    Lizzie und Suzanne, seine Töchter, sind so untröstlich über Harrys Tod, dass sie mich baten, das Ausräumen seiner Sachen zu übernehmen. Dabei fand ich, auf dem Speicher ganz hinten in einer Kiste, Liebesbriefe und Fotos aus einer versunkenen Zeit. Sie waren eine Schönheit, Vicky, und Elsa ein reizendes Kind. Ich bilde mir ein, in Elsas Lächeln das Lächeln meines Bruders zu erkennen, als er selbst noch ein Junge war.
    Ich muss sagen, ich nehme es Harry doch übel, dass er uns Elsa vorenthalten hat. Hat sie eigentlich nie versucht, ihren Vater zu finden? Ich hoffe jedenfalls von Herzen, dass Sie und Elsa am Leben und froh sind. Und ich hoffe, Sie haben in Ihrem Leben noch andere Menschen gefunden, die Sie lieben konnten. Harry war ja nicht der einzige Mann auf der Welt, will ich meinen.
    Ihre Gertrud Grünberg
    PS : Bei Harrys Beerdigung wurde natürlich eine Menge Musik gespielt. Auf seinen ausdrücklichen Wunsch auch ein Lied, das uns zu diesem Anlass ein wenig erstaunte. Es heißt: »Ausgerechnet Bananen, Bananen verlangt sie von mir …«
    PPS : Ganz unten auf dem Grund von Harrys Kiste lag ein karierter Zettel mit seiner Handschrift. Nicht der Handschrift
eines jungen Mannes, sondern der eines alten! Vielleicht war es doch ganz gut, dass Lorraine nichts von Ihnen wusste. Ich lege Ihnen diesen Zettel bei,
damit Sie es, wenn auch ein wenig spät im Leben, schwarz auf weiß haben.
    An dieser Stelle ist die Schrift so verwischt und das Blatt so wellig, dass man es glatt streichen muss, um zu lesen. Noch welliger ist nur der karierte Zettel, auf dem Elsa nun entziffert: »Trotz allem: Vicky bleibt meine große Liebe.«
    Sie schiebt den Brief zurück in die Plattenhülle und hört wieder Vickys Stimme. »Und wenn jemals, Erichs Prophezeiung zum Trotz, diese Mauer fällt, hab ich persönlich nur einen Wunsch. Sorgt dafür, dass das Jonass den Grünbergs zurückgegeben wird. Denen, die dann noch leben.«
    Das ist jetzt ihr Erbe. Vickys letztes Band. Wird es zwischen ihrer Mutter und ihr ein neues Band knüpfen oder das letzte zerschneiden? Soll sie sich auf die Suche machen nach Harrys Familie? Noch sind ihre Gefühle zu widersprüchlich, um das zu entscheiden. Wenn sie doch Bernhard anrufen, ihm sagen könnte: »Bitte komm.« Sie würde mit ihm Vickys Geschichte hören, in die eingerollt ihre eigene lag und der Anfang von Bernhards Geschichte. Und um sie alle herumgewickelt war die Geschichte des Jonass, die Geschichte ihres Hauses.
    Während Elsa auf der Heimfahrt überlegt, wie sie Bernhard endlich erreichen kann, ob sie noch einmal ein Visum beantragen oder einen Brief hinüberschmuggeln lassen soll, hört sie mit halbem Ohr, was der Nachrichtensprecher im Autoradio soeben verkündet: In Ungarn haben sie ein Loch in den Grenzzaun geschnitten.

Am Ende ein Anfang
    Noch sieht man der Kantine des Instituts an, dass sie erst vor Kurzem frisch renoviert wurde. An der Essensausgabe wird am 6. November geklappert und gelärmt wie an allen Tagen. Die Menschen drängen sich um die Tische, als hätte es alle zur gleichen Zeit aus den Büros und von den Schreibtischen getrieben. Trotzdem liegt eine seltsame Stille im Saal. Das ganze Haus scheint die Luft anzuhalten. Nur Erich Honecker lächelt von der Wand freundlich auf die Essenden und Schweigenden herab.
    Draußen regnet es. »Scheißwetter«, sagt jemand. »Bleiben die Leute vielleicht zu Hause heute Abend.« Das wüssten die hier gern an diesem Montag, denkt Bernhard. Ob heute wieder demonstriert wird. Ob
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