Torstraße 1
kluge Tochter in einer Kantine. Hat das Studium abgeschlossen – ihm zuliebe, wie er weiß – und gerade mal drei Jahre als Journalist gearbeitet.Journalistin, verbessert er sich in Gedanken. Genau so lange, wie der Staat es abverlangte. Hat sich gequält und zermürbt. Wie viele Nächte sie damit zugebracht haben, darüber zu diskutieren, ob die Arbeit bei der Betriebszeitung sinnvoll oder einfach nur verlogen ist, weiß er nicht mehr. »Mehr als dreißig bestimmt«, murmelt Bernhard und fragt sich, warum das jetzt noch wichtig sein sollte. Luise hat sich anders entschieden, gegen den Beruf und gegen seinen Rat. Und letztlich gegen den Staat, der sie dafür bestraft hat und am Ende sogar eingesperrt. Über beides – Luises Unvernunft und die Verbohrtheit der Staatsmacht – könnte er heute noch wütend werden, obwohl ringsum alles zusammenbricht und nichts von alldem mehr wichtig scheint.
Bernhard kramt die Telefonnummer heraus, unter der er seine Tochter ganz bestimmt erreichen kann, die Nummer vom Pfarrhaus, in dem Uwe und Luise bei den Eltern des Jungen leben. Des Jungen, aus dem ein Pfaffe geworden ist, wie er in seinen wütenden Momenten sagt. »Meine Tochter ist mit einem Pfaffen zusammen.« Da fragt dann keiner mehr weiter, wenn er es so sagt. Bernhard sitzt mit dem Telefonhörer in der Hand da. Er hat nie aufgehört, sich nach seiner Tochter zu sehnen, und zwischendurch war es ja auch immer mal wieder gut. Das haben sie beide nicht fertiggebracht, sich ganz und gar zu meiden. Aber nachdem Luise nach drei Jahren Betriebszeitung angekündigt hatte, keine Zeile mehr schreiben zu wollen für irgendein Blatt, sei es das Zentralorgan oder eine Lokalzeitung, war es richtig schwierig geworden zwischen ihnen. Und noch schlimmer nach der Geschichte mit der Verhaftung. Seine Tochter im Gefängnis, da hat er lange gebraucht, um das erst in den Kopf und dann auch wieder aus dem Kopf zu kriegen. Das war schlimmer als Luises Kündigung bei der Zeitung. Obwohl auch die eine kleine Welt zusammenbrechen ließ.
Zuerst dachte Bernhard damals, es läge nur an der Angst,die ihn umtreibt. Was sollte aus Luise werden, wenn sie ihre Arbeit aufgab? Sie hatte doch, genau wie er, nichts anderes gelernt, als Zeilen zu schreiben. Aber er hatte schnell gemerkt, dass die Angst nur die halbe Wahrheit war. Es ging ihm auch ums Prinzip. Dass ausgerechnet seine Tochter sich diesem Staat dermaßen verweigerte, in den er doch, trotz allem, noch immer Hoffnung setzte. Dann hatte Luise die Arbeit in der Theaterkantine angenommen, fand Verbündete, was ihre politischen Ansichten betraf, fühlte sich wohl mit all den Künstlern und schrägen Gestalten. Blühte auf, obwohl sie sich so unter Wert verkaufte: Bier zapfen, Brötchen schmieren, Kaffee kochen, betrunkene Schauspieler bedienen, nachts den Dreck der anderen wegmachen. Und dann wollte sie, dass er sie in der Kantine besuchte, alles dort toll fand und die Theaterleute bewunderte wie sie. Einmal hatte er ihr den Gefallen getan, stundenlang auf einem wackligen Barhocker gesessen, ein Bier nach dem anderen getrunken und versucht, seinen Unmut zu verbergen, was ihm gründlich misslungen sein muss. Irgendwann war Luise zu ihm gekommen und meinte, wenn er es so unerfreulich bei ihr finde, solle er doch besser nach Hause gehen. Bei ihr, hatte sie gesagt, als sei die Kantine ihr neues Zuhause. Und Wilhelm, der sonst immer für den Ausgleich gesorgt hatte, damit man nicht aufhörte, miteinander zu reden, war tot. So weit ist es gekommen, dass er nun hier in der Redaktion sitzt und sich nicht durchringen kann, seine Tochter anzurufen, um mit ihr seine Ängste zu teilen. Welche auch, denkt er. Was meine Angst ist, wird wohl ihre Hoffnung sein.
Am Nachmittag wird er ins Rote Rathaus abkommandiert, wo zum ersten Mal die zeitweilige Untersuchungskommission zur Aufklärung der Übergriffe am 7. Oktober tagen soll. Aber es hätte auch schlimmer kommen können. Das Politbüro berät zur gleichen Zeit, und schon jetzt hört man, dass sich vor dem Gebäude des Zentralkomitees Leute zusammenrotten. Wie gut,denkt Bernhard, dass das Zentralkomitee nicht mehr wie früher im Haus der Einheit sitzt, in seinem Institut. Sonst stünde es jetzt mitten im Kreuzfeuer, so wie schon einmal im Juni ’53.
Später erzählt der Kollege, den es getroffen hat, im Zentralkomitee vor Ort zu sein, die Losung des Tages hätte geheißen: ›Alle Macht dem Volke und nicht der SED‹. »Morgen wird das Politbüro zurücktreten,
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