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Torstraße 1

Torstraße 1

Titel: Torstraße 1
Autoren: Sybil Volks
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da werden wir doch nicht schneller mit unserem neuen Chefredakteur sein.«
    Bernhard nickt und denkt, der Alte wird trotzdem verschwinden und jemand anderem aus ihren Reihen Platz machen. Und dem wird ein scharfer Wind um die Nase wehen.
    Er übersteht den Dienst irgendwie und kommt am Abend todmüde nach Hause. Elisa ist schon da. Sie sitzt vor dem Fernseher und klopft mit der Hand neben sich aufs Sofa. »Setz dich zu mir«, sagt sie, »und schau dir das an.«
    »Du sollst doch kein Westfernsehen gucken.« Bernhard grinst. Ihm ist nach Blödeleien zumute und nach Bier.
    »Bier steht auf dem Balkon«, sagt Elisa. »Bring mir auch eins mit.« Dann sitzen sie beide auf der Couch und schauen Westfernsehen. Das heißt, Elisa schaut Westfernsehen, und er betrinkt sich.
    »Du hättest am Sonnabend mit auf den Alexanderplatz kommen sollen«, sagt Elisa.
    Und dieser Satz, dieser harmlose kleine Satz von der Frau, mit der er seit fast zehn Jahren zusammenlebt, so überwiegend glücklich, wie es ihm vor ihr noch mit keiner gelungen ist, ist ein Satz zu viel. Die Bierflasche fliegt aus seiner Hand in Richtung Fernseher, verfehlt das gute Stück, das sie sich erst vor zwei Jahren für eine Menge Geld geleistet haben, nur um Zentimeter und zertrümmert die Glasscheibe der Schrankwand. Die dunkelgrüne ungarische Keramik, die noch nie zu irgendetwas nütze war, geht gleich mit drauf. Gut so.
    »Was wollt ihr eigentlich alle«, brüllt er und sieht, wie Elisaaufspringt und erschrocken zur Tür eilt. Das kann ihn jetzt nicht mehr stoppen. »Vierzig Jahre Arbeit und Hoffnung, und ihr wollt alles zunichtemachen. Den Bach soll es runtergehen, das Land. Das wollt ihr. Abschaffen, vernichten, zerstören. Ich hab mich krumm gemacht all die Jahre für dieses Land, eine bessere Zukunft. Das war es mir wert, verstehst du. Ich hab nicht immer nur rumgemeckert über den Staat und die Genossen und die Partei und die Versorgung. Was hast du denn schon gelitten hier? Was hast du denn zu schimpfen? Und was habe ich auf dem Alexanderplatz zu suchen? Ihr könnt mich alle am Arsch lecken. Alle.«
    Elisa steht in der Wohnzimmertür, immer noch fluchtbereit. Sie schweigt. All die Jahre hat sie geredet, denkt Bernhard, all die Jahre hat sie kritisiert, mich, meine Arbeit, meine Kollegen, das Institut, die Zeitung, alles. Jetzt steht sie da und hält die Klappe. Ohne Liebe schaut er in diesem Moment auf die Frau, mit der er Tisch und Bett und Leben teilt. Fassungslos schaut er auf sich selbst, wie er mit den Händen in den Hosentaschen dasteht, einen Scherbenhaufen in seinem Rücken. Sie hat ihn verraten. Sie verrät ihn gerade. Steht ihm nicht zur Seite, macht sich mit den anderen gemein. Am liebsten wäre ihm, sie verschwände.
    »Soll ich gehen?«, fragt Elisa, und Bernhard nickt. Nickt und sieht zu, wie sie eine große Tasche aus der Kammer holt, Hosen, Pullover und Wäsche hineinpackt. Bleibt stumm, als sie ins Bad geht und ihre Kosmetik in einen Beutel stopft, verharrt auf der Stelle, während sie sich ihren Mantel überzieht, einen Schal umbindet und eine Mütze aufsetzt, den Schlüssel vom Haken nimmt und geht. Die Wohnungstür, die, lässt man sie nur zwei Sekunden zu früh los, laut zuknallt, schließt sie ganz leise.
    Elisa ist gegangen, und wie er sie kennt, gilt das für immer. Sie ist keine, die sich zwei Mal sagen lässt, dass sie gehen soll. Sie hat ihren Stolz. Deshalb liebt er sie ja. Weil sie ihren Stolzhat. Oder liebt sie nicht mehr, weil sie ihren Stolz hat. Was weiß er denn. Elisa ist fort. Und vielleicht ist es auch richtig so. Vielleicht passt es zu allem anderen um ihn herum. Zu all den anderen, die in den letzten Monaten gegangen sind und die Länder und Seiten gewechselt haben. Den letzten Monaten des Zerfalls, in denen auch Elisa und er sich immer häufiger gestritten haben, ohne sich dann doch in der Mitte zu treffen wie in den Jahren zuvor. Vor vier Tagen wollte Elisa unbedingt mit ihm ins Kino gehen. In einen dieser sowjetischen Filme, die lange verboten waren und nun auf einmal gespielt werden durften. ›Die Reue‹ wollte sie sich ansehen. »Ich gehe nicht in den Film«, hat er zu Elisa gesagt und blieb hartnäckig, aber sie blieb es auch. Am Ende ist sie ohne ihn gegangen.
    Nun sitzt er hier auf der Couch, hat randaliert, eine Scheibe zerschmissen, Porzellan zerdeppert und seine Liebe dazu. »Da führt kein Weg zurück«, murmelt Bernhard und holt noch eine Flasche vom Balkon. Das Westfernsehen flimmert weiter im
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