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Torstraße 1

Torstraße 1

Titel: Torstraße 1
Autoren: Sybil Volks
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sie besser zeitig das Institut verlassen, um nicht hineinzugeraten in den Schlamassel. Es riecht nach Eintopf in der ganzen sechsten Etage, nach Leipziger Allerlei, und das klingt wie ein Menetekel. In Leipzig wird heute garantiert wieder demonstriert. Mit oder ohne Regen.
    An der Geschirrabgabe stapeln sich die schmutzigen Teller, in den Mülleimern sammelt sich das Leipziger Allerlei. Scheint niemandem zu schmecken an diesem Montag. Vielleicht liegt den Leuten noch der 4. November im Magen. »Eine Million Menschen sollen es gewesen sein«, murmelt jemand, während er den halb vollen Teller von sich schiebt. Und der Nachbar sagt: »Haben wir überhaupt noch so viele Einwohner in der Stadt?«

    Bernhard hat sich bereit erklärt, in der Zeitungsredaktion bei den Leserbriefen auszuhelfen. Die Kollegen der Abteilung haben eine Notrufmeldung ausgegeben. Gestern sind sechshundert Briefe gekommen. Früher, wenn man die Zeit, die gerade mal vier Wochen zurücklag, so bezeichnen konnte, waren es zwischen fünfzehn und zwanzig Briefe am Tag. Da musste man sich die Leserpost im Zweifelsfall selbst organisieren. Und jetzt sechshundert.
    Als Bernhard am 7. November morgens in die Abteilung kommt, herrscht dort Ratlosigkeit. »So viel Post hatten wir das letzte Mal, als sie den ›Sputnik‹ verboten haben«, sagt ein Kollege und schüttelt den Kopf. Daran kann er sich noch gut erinnern. Der Kommentar zum Thema trug die Überschrift »Gegen die Entstellung der historischen Wahrheit«. Ist ein knappes Jahr her, dass die sowjetische Zeitschrift verschwand, wenn er es richtig im Kopf hat. Und heute? Haben sie schon wochenlang die absonderlichsten Geschichten in die Welt beziehungsweise ins Blatt gesetzt. Er ist jetzt noch froh, dass er freihatte an dem Tag, als die Story von der Mentholzigarette und der Entführung in den Westen gedichtet werden musste. Ahnungsloser Mitropa-Koch, Vater von drei Kindern, wird von skrupellosen Menschenhändlern in Budapest mit einer präparierten Mentholzigarette betäubt und nach Wien entführt. Über diese Geschichte haben sie hier bloß noch hysterisch gelacht. Und sie dann samt Kommentar und allem Drum und Dran veröffentlicht. Vor vier Tagen erst war man zurückgerudert.
    Und nun hat er sich breitschlagen lassen, eine Frühschicht bei den Leserbriefen dranzuhängen. Aber was sollen sie den Leuten schreiben? Wir sind doch diejenigen mit den falschen Antworten, denkt Bernhard, als er sich hingesetzt und die ersten Briefe durchgesehen hat. Noch bevor er zu einer Entscheidung kommt, ob er nun weiter falsche Antworten auf richtige Fragen schreiben soll und kann, macht die Nachricht vom Rücktritt derDDR-Regierung die Runde in der Redaktion. Also wird auch er in der Innenpolitik gebraucht, um das Blatt umzukrempeln.
    Bernhard sehnt sich zurück. Jetzt schon sehnt er sich zurück. Säße am liebsten im Institut in einem kleinen Kabuff vor einem knarrenden Lesegerät und läse olle Kamellen. Er spürt, wie ihm die Brust eng wird. Reibt mit der Hand über die Stelle, wo das Herz eingeklemmt ist, als könne er es so aus seinem Käfig befreien.
    Er nimmt den Telefonhörer und versucht Luise zu erreichen. Gestern haben sie kurz telefoniert. »Warst du am Sonnabend auch auf dem Alex?«, hat die Tochter begeistert gefragt. »Was soll ich dort, Luise, kannst du mir das sagen? Die demonstrieren doch gegen solche wie mich. Und du hast wahrscheinlich mitgemacht.« Danach haben sie sich angeschwiegen. Bernhard überlegt, wer von ihnen beiden zuerst den Telefonhörer aufgelegt hat, und reibt weiter mit der Hand auf seiner Brust, die Angst hat sich breitgemacht unter den Rippen. Er hätte seiner Tochter auch erzählen können, dass einige seiner Kollegen ihm vorgeschlagen haben, am 2. November mit zur Demonstration auf dem Alexanderplatz zu gehen. Ihr könnt mich mal, hat er da gedacht, soll ich vielleicht so tun, als wär ich auch immer schon dagegen gewesen, wie einige von euch das jetzt praktizieren. Aber nur beim Bad in der Menge, versteht sich, nicht beim Chef in der Redaktion. Man kann ja nie wissen.
    Luise ist nicht da, bekundet ihm der Pförtner am anderen Ende der Leitung. Sie kann auch gar nicht da sein, es ist viel zu früh, stellt Bernhard fest. Luise fängt immer erst am Nachmittag an zu arbeiten und hat sich, seit sie in der Theaterkantine schuftet, einen anderen Schlafrhythmus angewöhnt. Kommt ja auch nie vor ein Uhr in der Nacht nach Hause. Bernhard kann es bis heute nicht fassen. Da arbeitet seine
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