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Torstraße 1

Torstraße 1

Titel: Torstraße 1
Autoren: Sybil Volks
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ihn nicht zu denken. »Ist das nicht fürchterlich«, hat Luise gesagt. »Da wird nur ein paar Kilometer entfernt ein Mensch begraben, der dir wichtig ist, und du kannst nicht zur Beerdigung fahren?« Ja, das war fürchterlich. Er wäre gern bei Elsa gewesen an diesem Tag, hätte sie getröstet und Vicky die letzte Ehre erwiesen. Plötzlich hat er das Gefühl, sich schnell auf den Weg machen zu müssen, um Elsa wiederzusehen. Und während er noch überlegt, ob das an diesem Tag liegt, der alles verändert, oder daran, dass Elisa nicht hier neben ihm auf dem Sofa sitzt, schreckt ihn ein Klingeln auf.
    Luise steht vor ihm, ganz außer Atem, lacht und umarmt ihn. Geht voran ins Wohnzimmer, zieht ihn ans Fenster und deutet in großem Bogen auf die umliegenden Häuser, von denen noch viele erleuchtet sind tief in der Nacht. »Es wird alles gut! Jetzt können wir wirklich anfangen, etwas aus diesem Land zu machen. Die Leute sind glücklich. Glaub mir. Jetzt fängt ein ganz neues Leben an.«
    Bernhard hält seine Tochter fest und schweigt. Wenn sie daran glaubt, ist es gut. Er wird nicht noch einmal anfangen, ein Land aufzubauen. Für ein zweites Mal ist kein Mut mehr übrig. So denkt er und lächelt und hört sich an, was Luise von ihrer ersten Westreise zu erzählen hat.
    Am Sonntagmorgen in der Straßenbahn nach Pankow fragt sich Bernhard, in welcher Verfassung er seine Schwester antreffen wird. Es war schon vorher schwierig mit ihnen beiden, bevor die Montagsdemos angefangen haben und alles ins Rutschen und Taumeln geriet. Kurz nach dem 7. Oktober ist er das letzteMal bei Charlotte zu Hause gewesen. Ihr Mann war nicht da. »Im Einsatz«, hat Charlotte kurz angebunden gesagt und ihn angesehen, als sei er schuld daran, dass die Leute auf die Straße gingen und solche wie Martin Dienst schieben mussten. Vielleicht, weil er eine Tochter in die Welt gesetzt hatte, die in ihren Augen eine Staatsfeindin sein muss. Jetzt wird Martin wohl nicht mehr im Einsatz sein, denkt Bernhard, die Grenzen sind offen, der Klassenfeind kann begutachtet werden, Westflucht ist nicht mehr nötig.
    Charlotte baut sich in der Tür auf und schaut ihn an, als sei er ein Fremder.
    »Charlotte«, sagt Bernhard und versucht eine unbeholfene Umarmung, die nicht erwidert wird. Seine Schwester macht sich steif und tritt zwei Schritte zurück, um ihn hereinzulassen. »Ist Martin da?«
    Charlotte schüttelt den Kopf. Im Wohnzimmer ist es kalt, sie sitzen sich in zwei Sesseln gegenüber, Bernhard noch immer im Mantel. »Ich weiß nicht, wo Martin ist«, sagt Charlotte. »Er hat sich seit dem 9. nicht gemeldet.«
    »Das ist ja nicht möglich«, entfährt es ihm. »Die werden ihn auf der Dienststelle doch nicht daran hindern, zu Hause Bescheid zu sagen, wenn er im Einsatz ist.«
    Da stimmt ihm Charlotte zu. »Er wird sich nicht melden wollen.«
    Danach sitzen sie stumm in den wuchtigen Sesseln, Charlotte hat ihm noch immer nichts angeboten, weder Wasser noch Kaffee oder etwas zu essen. Aber sie sieht nicht mehr feindselig aus, eher abwesend und leer, als habe sie vergessen, dass man Wohnungen heizen, dass man essen und trinken und Gäste bewirten sollte. Bernhard dreht die Heizkörper auf, geht in die Küche und kocht Kaffee, während Charlotte weiter im Sessel sitzt. Er reicht ihr eine dampfende Tasse, fängt an, von Luise zu sprechen, und sieht, dass Charlottes Gesichtszüge weicher werden. Nein, siesieht keine Staatsfeindin in Luise, denkt Bernhard, sie hat ihre Nichte immer geliebt, auch wenn sie in so vielerlei Hinsicht in anderen Welten lebten. Zum ersten Mal kommt ihm jetzt der Gedanke, dass es Charlotte gewesen sein könnte, der Luise ihren Freispruch verdankt, Charlottes Einsatz für sie bei ihrem Mann. Vielleicht hielt seine Schwester auch an Luise fest, weil sie selbst keine Kinder bekommen hatte. Charlotte, die schon als junges Mädchen davon geredet hatte, einmal ganz viele Kinder zu haben, war kinderlos geblieben. Und er hat gerade mal eine Tochter. Die Glasers werden aussterben, denkt Bernhard. Luise wird Uwe heiraten und einen anderen Namen tragen, Charlotte und ich werden sterben.
    Weil ihn das traurig macht in diesem Moment, der Gedanke an das Ende ihrer Familie, fragt er doch noch einmal nach, warum Martin sich nicht zu Hause meldet. Charlotte fängt an zu weinen. Bernhard erstarrt in seinem Sessel. Nie wieder hat er die Schwester weinen sehen seit jenem Tag, als die Mutter verschwand. Sich das Leben genommen hat. Charlotte hatte das damals
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