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Torstraße 1

Torstraße 1

Titel: Torstraße 1
Autoren: Sybil Volks
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gleich gewusst, fünfzig Jahre früher als er. Wochenlang, nächtelang hat sie geweint in ihrem Bett auf der anderen Seite des Kinderzimmers. Und er konnte es nicht ertragen, dass sie um die Mutter weinte wie um eine Tote, da die Mutter doch lebte und zurückkommen würde. Angefleht hat er sie, still zu sein, und schließlich beschimpft. Die Pantoffeln nach ihr geworfen. Da war das Weinen zum Schluchzen geworden und endlich verstummt. Gründlich und für immer, so schien es.
    Auch jetzt weint sie nicht wie andere Menschen, lautlos kullern einzelne Tränen, eine nach der anderen wischt Charlotte rasch vom Gesicht. Dann versiegen die Tränen genauso abrupt, wie sie herabzurollen begannen.
    »Er war am 9. November abends hier«, sagt sie mit klarer Stimme. »Wir haben zusammen ferngesehen, Martins erster freier Abend seit Ewigkeiten war das. Wir haben uns angeschaut,wie dieser Schlappschwanz bei der Pressekonferenz herumstottert. Peinlich, so das Ende eines Landes zu verkünden, für das wir vierzig Jahre geschuftet haben. Für das so viele ihr Bestes gegeben haben.«
    Bernhard zuckt ein wenig zurück. Ja, es war ein würdeloses Ende, da hat sie recht. Aber Charlotte sieht aus, als wäre sie in der Lage, jemanden umzubringen für die Schmach. Wenn sie nur wüsste, wen.
    »Martin ist aufgestanden und hat gesagt, da werden sie ihn nun sowieso in die Dienststelle beordern, also kann er auch gleich gehen. Und dann ist er gegangen. Er werde sich melden, und ich solle mir keine Sorgen machen, jetzt sei eh alles vorbei. Aber man müsse ja wohl noch aufräumen, bevor die anderen kommen.«
    Bernhard kann sich gut vorstellen, dass seine disziplinierte Schwester tatsächlich all die Tage nicht versucht hat, ihren Mann zu erreichen. Sie war so erzogen, hatte ihm immer Vorträge über Parteidisziplin und revolutionäre Härte gehalten. Manchmal fand er es schon verwunderlich, wie unterschiedlich sie beide waren, wie wenig er von Charlottes Unbeugsamkeit hatte und dass sie so gar kein Mitgefühl zeigen konnte, wenn Menschen zweifelten und an ihren Zweifeln auch verzweifelten. Martin war genauso. Hart und unnachgiebig.
    »Soll ich Martin mal anrufen?«, fragt Bernhard, und Charlotte würdigt ihn keiner Antwort.
    »Hast du gesehen, wie sie sich klein machen und zu Kreuze kriechen für die einhundert Mark? Begrüßungsgeld!« Charlotte spuckt das Wort aus, als läge ihr Gift auf der Zunge. »Ist das nicht widerlich, wie unsere Landsleute in jeden Westarsch kriechen für ein paar Kröten? Wie sie sich mit Bananen und Keksen bestechen lassen wie eine Horde Affen? Weißt du«, sagt Charlotte und beugt sich ein wenig zu Bernhard, »da können die reden, wie sie wollen. Das ist eine Konterrevolution. Undeine Konterrevolution lässt sich nur mit Gewalt niederschlagen. Aber dafür ist es zu spät.«
    Bernhard ist plötzlich sehr froh, dass seine Schwester nicht zu denen gehört, die das Sagen haben. »Ich muss gehen«, sagt er und steht auf.
    Charlotte macht keine Anstalten, ihn zurückzuhalten.
    Beim ersten Schnee in diesem Jahr läuft Bernhard in den Westen. So hat er es sich vorgenommen für diesen Mittwoch, der sein freier Tag ist. Die ganzen letzten Wochen und Wochenenden hat er durchgearbeitet, wenn möglich im Institut. Das war besser, als zu Hause zu sein, ohne Elisa. Gestern hat er zwei Löcher in den Gürtel gestanzt, um ihn enger schnallen zu können, das schien ihm fast wie ein symbolischer Akt. Aber heute darf er sich nicht blicken lassen in der Redaktion, auf Befehl des Chefs.
    Am Montag ist in der Frühsitzung ein Kollege ausgerastet und hat sich nicht mehr gefangen. Bernhards Puls beschleunigt sich, wenn er nur daran denkt. Der Kollege, ein recht junger Mann noch, ist mitten in der Sitzung aufgestanden und hat angefangen, eine Rede zu halten. Eine Rede von Schuld und Sühne, die er mit raumgreifenden Gesten untermalte. Immer schneller hat er gesprochen, bis die Sätze wie Maschinengewehrfeuer auf die Versammelten einprasselten und kaum noch verständlich waren. Dann hat der Mann angefangen, mit der flachen Hand auf den Tisch zu schlagen, so lange, laut und heftig, bis sie dick anschwoll. Er schoss weiter seine unverständlichen Salven ab, schlug weiter mit der geschwollenen Hand auf den Tisch ein. Zwei Männer mussten ihn festhalten, bis der Notarzt eintraf. Jetzt ist der Junge in der Klapse, denkt Bernhard und beschleunigt seine Schritte. Da gehören wir wahrscheinlich alle hin.
    Am Rosenthaler Platz überlegt er kurz, ob er
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