Torstraße 1
die Ihren Fähigkeiten entspricht?«
»Sehr gern. Aber nicht als Spitzel.«
Ein Kellner kommt und fragt, ob er die Kerzen auf ihrem Tisch anzünden dürfe. »Ein wenig festliche Stimmung, die Herrschaften?« Da er keine Antwort erhält, zieht er sich unverrichteter Dinge zurück.
»Fräulein Janssen, Ihnen ist hoffentlich klar, dass wir bei Jonass nicht auf Sie angewiesen sind.« Helbig zupft einzelne Nadeln aus dem Tannengesteck. »Und es geht nicht nur um Ihre Stelle. Wir wissen beide, dass Sie in verbotene Lokale gehen, zu verbotener Musik tanzen, verbotene Sender hören.«
»Ein Wunder, dass ich selbst noch nicht verboten wurde.«
»Das ist kein Kavaliersdelikt. In diesen Zeiten geht es um alles. Um Leben und Tod.« Noch einmal richtet er seinen Blick auf sie. »Sagen Sie mir, wer Elsas Vater ist.«
Elsie schiebt in aller Ruhe die über das weiße Tischtuch verstreuten Nadeln zu einem Häufchen zusammen. »Was bieten Sie mir dafür?«
»Alles.« Er räuspert sich. »Eine bessere Stellung, mehr Gehalt. Meinen Schutz, was auch kommen mag.« Er legt seine Hand auf Elsies, und sie zieht ihre nicht weg.
»Gut.« Sie beugt sich nach vorn. »Ich sage Ihnen jetzt alles, was ich weiß. Einmal. Dann will ich nie wieder gefragt werden.«
»Versprochen.« Die Augen hinter seinen Brillengläsern scheinen sie aufzusaugen.
Elsie lehnt sich zurück. »Er hieß Heinz und kam aus dem Rheinland.«
Vor Verblüffung steht Helbig der Mund offen. Da lacht Elsie aus voller Kehle. Sie steht auf. »Viel Glück beim Suchen!«
Als sie sich im Hinausgehen noch einmal umblickt, sieht sie, wie ihm die Tränen unter den Brillengläsern hervor über die Wangen strömen.
Wenn nur alles schon vorbei wäre. Seit Wochen liegt Vicky ganze Tage bei zugezogenen Vorhängen im Bett. Wie gut, dass sie für das Schlafzimmer die dunklen Gardinen aus dickem Stoff genäht hat. Die Hitze und das grelle Licht sind unerträglich. Sie ist froh, dass sie mit dem Wahnsinn da draußen nichts zu tun haben muss. Gestern haben sie die Olympischen Spiele eröffnet. Die ganze Welt bestaunt das neue Deutschland. Überall Lärm und hupende Autos, Gedränge in Straßen und Geschäften, laute Stimmen und rote Köpfe. Und jetzt noch die Augusthitze, ganz Berlin liegt im Fieber. Olympiafieber. Vicky nimmt einen Schluck Wasser aus dem Glas auf dem Nachttisch. Gerd hat es ihr hingestellt, bevor er zur Arbeit ins Jonass fuhr. Da muss sie auch nicht mehr hin, Gott sei Dank. Sie scheucht eine Fliege von der Bettdecke. Die verkrampfte Freundlichkeit, mit der Grünberg ihr seit der Hochzeit begegnet, der unausgesprochene Krieg zwischen ihm und ihrem Mann. Dazu die Angst, auf Harry zu treffen. Sie lehnt sich ins Kissen zurück. Nie wieder. Ob er sie noch allein lassen könne, in ihrem Zustand, hat Gerd besorgt gefragt. Sie musste ihn wegschicken. Wenn sie irgendwen bei der Geburt nicht dabeihaben will, ist es Gerd.
Wie an allen größeren Gebäuden der Stadt prangen an der Fassade des Jonass riesige Olympiaringe. In den Verkaufshallen ist alles passend dekoriert, in der Damen- und Herrenkonfektion hängen lebensgroße Plakate der deutschen Athletinnen und Athleten. Auch in den Büros der Inhaber und Angestellten fiebert man mit den Sportlern, versammelt um den Rundfunkempfänger,der in Grünbergs Vorzimmer steht. Die Stimme des Rundfunkreporters überschlägt sich vor Begeisterung, als er verkündet, dass Tilly Fleischer mit dem Rekordwurf von 45,18 m im Speerwerfen die erste Goldmedaille für Deutschland erringt. Frau Kurz beugt sich zu Gerd Helbig. »Tilly wär doch auch ein schöner Name, nicht?« Gerd nickt abwesend. Er steht auf und ruft von seinem Büro aus noch einmal zu Hause an. Warum geht Vicky nicht ans Telefon? Das Haus hat sie seit Tagen nicht verlassen. Vorhin hat er noch gedacht, sie schläft, aber jetzt wird es ihm allmählich unheimlich.
Eine halbe Stunde später sitzt Gerd Helbig im Auto auf dem Weg nach Hause. Jede, aber auch jede Ampel auf seinem Weg springt auf Rot. Im Stadtzentrum gerät der dichte Verkehr ins Stocken. Schließlich sitzt er ganz fest. In einiger Entfernung sieht Helbig dunkle Karossen vorbeifahren, wahrscheinlich ausländische Staatsgäste, Sportler und Presse im Schlepptau. Jubelnde Menschen säumen in dichter Reihe den Straßenrand. Helbig wischt sich mit zitternder Hand den Schweiß von der Stirn.
»Es ist ein Junge!«, verkündet die Hebamme. Sie hält den abgenabelten Säugling mit dem Kopf nach unten und gibt ihm einen Klaps
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