Torstraße 1
auf den Po. Er stößt einen lauten Schrei aus.
Vicky richtet sich auf. »Ich will ihn sehen!«
»Nicht so ungeduldig, junge Frau. Wir wollen den kleinen Mann erst hübsch machen für die Mama und …«
»Zeigen Sie ihn mir!«, schreit Vicky sie an. »Sofort!«
Die Hebamme fährt zusammen und reicht Vicky das Neugeborene. Hier und da hat er noch kleine Flecken von Blut und Schleim im Gesicht. Doch selbst so kann Vicky es erkennen: Der Junge ist Gerd wie aus dem Gesicht geschnitten. Als die Hebamme ihr das Kind wieder aus den Händen reißt, sagt sie, lachend und unter Tränen: »Rufen Sie meinen Mann an.«Die Olympiaringe an der Kaufhausfassade sind abmontiert, die Schilder »Juden unerwünscht« hängen in der Stadt an ihren alten Plätzen. Das Spektakel ist vorbei, man ist in Deutschland wieder unter sich.
»Und die Zigeuner«, sagt Carola im Büro zu ihrem Vater, »hat man in ihrem neuen Lager am Rand von Marzahn gelassen. Wo sie beim Weltfriedensfest schon so schön aus dem Weg waren.«
Heinrich Grünberg, stirnrunzelnd über einen Brief gebeugt, schaut sie an. »Musst du dich in alles einmischen? Was gehen uns jetzt die Zigeuner an? Wenn ich dich schon im Jonass beschäftige, damit du zu Hause deine Mutter nicht in den Wahnsinn treibst, könntest du dich ein bisschen nützlich machen.«
Carola geht vor seinem Schreibtisch auf und ab. »Bis Marzahn sind die Staatsmänner und Reporter nicht gekommen. Später werden sie sagen, dass es das alles gar nicht gegeben hat. Aber ich hab Fotos gemacht vom Zigeunerlager. Zwar ist der Gestank von den Abwassergräben daneben nicht drauf, aber …« Sie beugt sich zu ihrem Vater. »Willst du mal sehen?«
»Carola, wir sitzen bald allesamt selbst hinter Stacheldraht, wenn du so weitermachst. Und jetzt lass mich in Frieden, ich hab zu tun.« Er schickt seine Tochter hinaus und ruft den Geschäftsführer zu sich.
Gerd Helbig überfliegt den Brief, der von einer Zeitungsredaktion gekommen ist. »Die also auch«, sagt Grünberg zu Helbig. »Wenn das so weitergeht, druckt bald niemand mehr unsere Anzeigen. Wie sollen wir da gegenüber der Konkurrenz bestehen?«
Gerd Helbig dreht einen Bleistift zwischen den Fingern. »Wir können niemanden zwingen, Werbung für etwas zu machen, das der eigenen Überzeugung widerspricht. Sie wissen ja, dass man die Zerschlagung der Warenhäuser nur aufgeschoben hat, solange kein funktionierender Ersatz für sie gefunden ist. Unddas gilt für die kapitalistischen Warenhäuser allgemein. Wie steht es da erst um die …« Er stockt, sieht aus dem Fenster.
»… jüdisch-kapitalistischen«, hilft Grünberg ihm weiter.
»Nun ja«, meint Helbig, »eigentlich dürfen NSDAP-Mitglieder nicht einmal dort einkaufen. Ein Wunder, dass ich überhaupt noch hier arbeiten kann.«
Grünberg legt den Brief zu den Akten. »In der Tat, Herr Helbig, das wundert mich auch.«
Elsa sitzt auf dem Stuhl in ihrem Zimmer und tut gar nichts. Sagt nichts, rührt sich nicht. Nur die Gedanken kann man nicht anhalten, komisch. Endlich hat sie Bernhard wiedergesehen! Sie sind in einem großen Park spazieren gegangen, ihre Mama hat den kleinen Klaus im Wagen geschoben und Bernhards Mama den Arno auf einer Karre. Sie hat Bernhard gefragt, wie es ist, einen kleinen Bruder zu haben, aber Bernhard wollte nicht raus mit der Sprache. Vielleicht, weil der Arno immer krank ist. Sie hofft ja, dass Kläuschen nicht so viel krank ist, aber zum Spielen ist er für sie sowieso zu klein. Besser wäre, Bernhard als Bruder zu haben. Beinahe so schön wie früher war es mit ihm, bis er sie am Märchenbrunnen gefragt hat, ob sie mit ihm und Robert, der jetzt sein bester Freund ist, mit nach Amerika kommt. Sie wusste es nicht so recht, und später hat er gefragt, ob sie auf ihn warten will, wenn er erst mal alleine geht. Sie hat es Bernhard versprochen, und deshalb übt sie jetzt manchmal das Warten. Aber das ist gar nicht so einfach. Eine Ewigkeit sitzt sie schon auf dem Stuhl, der Po tut weh, und der Kopf wird ganz schwer. Ob sie doch lieber mit nach Amerika gehen soll? Dürfen Mädchen da auch mit Pfeilen schießen? In dem Buch, das sie mit Bernhard angeschaut hat, haben die Indianerfrauen immer nur in großen Kesseln gekocht. Immerzu kochen, dafür braucht sie wohl nicht den weiten Weg nach Amerika zu machen. Der linke Fuß beginntzu kribbeln. Eingeschlafen nennt Mama das. Sie schüttelt den Fuß, um ihn aufzuwecken. Ob sie bei den Indianern auch Malstifte haben? Sonst wird ihr bestimmt
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