Torstraße 1
ihr einen Arm um die Schultern. Sein Blick ruht auf Carola. »Das Jonass gehört uns nicht mehr, die Versicherungen sind futsch, Mutters Familienschmuck ist verscherbelt. Nun heißt es sparen für die Reichsfluchtsteuer. Umsonst, Schwester, ist nur noch der Tod.«
Carola hält dem Blick ihres Bruders stand. »Dann zünde ich das Haus an, nachdem sie es bezahlt haben.«
Selbst die Friedensbonbons haben nicht verhindern können, dass Vicky ihrem Mann am liebsten an die Gurgel gegangen wäre. »Reicht es nicht, dass dir jetzt das Kaufhaus gehört? Musst du sie auch noch aus ihrem Heim vertreiben?« Nicht er würde die Grünbergs vertreiben, hat Gerd erwidert, sondern sie hätten sich entschlossen, Deutschland zu verlassen. Und da könnten sie nur froh sein, wenn er ihnen das Haus zu einem anständigen Preis abnähme. Wie anständig dieser Preis denn sei? So wie der für die Anteile am Jonass, die ihn für wenig Einsatz zu einem reichen Mann gemacht hätten? Und sie zu einer wohlhabenden Frau, hat Gerd erwidert und sie zum Schweigen gebracht.
Nun steht Vicky in Harrys Zuhause, in das sie sich früher so oft gesehnt und nie einen Fuß gesetzt hat. Auch heute, zum Besichtigungstermin, ist sie ohne Harry durch das Eingangsportal der Villa getreten. Ein Makler hat ihnen aufgeschlossen und sie durch alle Räume geführt. Dann ist er mit Gerd in den Garten gegangen, um jeden Baum und Strauch zu begutachten. Sie hat Elsa den kleinen Klaus an die Hand gegeben und die beiden Kinder den Männern hinterhergeschickt. Mit dem schlummernden Baby auf dem Arm steigt sie die Treppe zum ersten Stock hoch, wo die Schlafzimmer liegen. Harry hat ihr das Zimmer beschrieben, das sein Schlafzimmer und früher sein Kinderzimmer gewesen ist. Die dritte Tür rechts auf dem Flur. Gleich daneben liegen die Räume seiner Schwestern. »Ich will, dass ihr in unserem Haus lebt, du und unser Kind«, hat Harry zu ihr gesagt, als sie ihm voller Empörung über Gerds Pläne berichtete. »Dein Mann und eure Söhne sind mir egal. Aber zu wissen, dass Elsa in unserem Garten spielt, wird ein Trost sein.«
Vicky tritt in das Zimmer und schließt hinter sich die Tür. Sie legt den schlafenden Kleinen auf das Bett, zieht die Schuhe aus und läuft auf Strümpfen über den Teppich. Sie streicht über die Tischplatte und die Lehne des Stuhls, geht auf die Knie und fährt die Stuhlbeine entlang. Dann öffnet sie eine Schranktür. Als sie Harrys Hosen, Jacken und Hemden auf den Bügeln hängen sieht, kommt ein Ton aus ihrer Kehle wie von einem Tier. Sie schlägt die Tür zu und lehnt sich dagegen. Noch wohnt er hier, noch ist das Haus nicht verkauft. Trotzdem war sie auf diesen Anblick nicht vorbereitet.
Mit aller Kraft rückt sie den Schrank auf einer Seite zentimeterweise von der Wand ab. In der Nische, die ganz von dem Schrank eingenommen wird, hat man sich das Neutapezieren gespart. Dort muss es sein, nicht weit über dem Boden. Ihre Finger tasten über das Muster der Tapete, finden nichts. Sie braucht Licht. Die kleine Leselampe über dem Bett lässt sichdrehen, leuchtet hinter den Schrank. Da sind sie, genau wie er es beschrieben hat: feine Buntstiftstriche, ein Haus mit rauchendem Schornstein, die Sonne, ein Baum. Daneben, in krakeliger Schrift »Harry«. Sie sieht den kleinen Jungen vor sich, wie er an die Wand kritzelt und lauscht, ob jemand kommt. Das muss mitten im Großen Krieg gewesen sein. Vicky richtet sich auf, schiebt den Schrank an die Wand zurück. Sie wird Gerd überreden, auch die Möbel mitzukaufen. Elsa wird Harrys Zimmer bekommen. Gleich daneben werden die Räume ihrer Brüder liegen. Hinter dem Schrank wird es auch in Zukunft keine neue Tapete geben.
»Wo seid ihr?« Gerds Stimme dringt von unten durchs Treppenhaus. Vicky geht zum Bett, um das Baby aufzunehmen und zu den anderen zurückzukehren. Im letzten Moment legt sie sich neben das schlafende Kind auf Harrys Bett und drückt das Gesicht in sein Kopfkissen. Eine Sekunde nur! Sie erstickt ihr Schluchzen im Kissen. Im Treppenhaus nähern sich Schritte.
Elsa sitzt am Schreibtisch in ihrem neuen Zimmer und schreibt einen Brief an Bernhard. Vom Fenster aus kann sie in den Garten sehen. Ein großer Garten mit hohen Bäumen. Eine Schaukel hängt zwischen den alten Eichen, auf der man hoch in die Luft fliegen kann. Sie soll erst mal abwarten, bis er ihren letzten Brief beantwortet hat, bevor sie einen neuen schreibt, hat Mama gesagt. Oder sich eine Brieffreundin suchen. Jungs schreiben halt
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