Torstraße 1
furchtbar langweilig. Vom Warten wird ihr schon jetzt furchtbar langweilig. Was ist, wenn sie beim Warten aufs Klo muss? Hunger bekommt? Sie denkt an den Kuchen, der noch auf dem Esstisch steht, und fühlt sich grauenhaft hungrig. Ganz schlecht wird ihr schon. Es nützt Bernhard ja nichts, wenn sie verhungert, während sie auf ihn wartet, nicht? Elsa springt vom Stuhl, läuft ins Esszimmer, schneidet ein Kuchenstück ab und stopft es sich in den Mund. Dann zieht sie den Block mit dem Bild heran, das sie vorhin am Esstisch angefangen hat, und malt eine Indianerfrau, die einen Cowboy kocht.
Vicky zieht dem kleinen Klaus eine frisch gewaschene Windel an. Selbst mit der Maschine ist es fast unmöglich, sie ganz sauber zu bekommen. Sie hat jetzt sogar eine Waschmaschine! Miele 45, das neueste Modell. Gerds Geschenk an sie zur Geburt des Sohnes. Trotzdem kommt ihr alles viel mühsamer vor als bei Elsa, wo sie die Windeln und Hemdchen auf dem Waschbrett schrubben musste. Kläuschen greift in Vickys Haare und versucht, ihren Kopf zu sich herunterzuziehen. Sie befreit sich aus seinem Griff. Ganz so erfreut wie in den ersten Tagen ist sie nicht mehr darüber, dass der Junge seinem Vater so ähnlich sieht. Jetzt hat sie dieses Helbig-Gesicht den ganzen Tag vor Augen, nicht nur abends und am Sonntag. »Ach, das wächst sich aus«, hat Elsie bei ihrem ersten Besuch gesagt – sie wollte unbedingt wieder fort sein, bevor Gerd nach Hause kam –, »und fürs Erste hat’s seinen Zweck erfüllt.« In der Tat, Gerd ist ganz närrisch nach seinem Sohn. Und sie überhäuft er mit Geschenken und Zärtlichkeiten. Mehr, als ihr lieb ist. Wie gut, dass sie von den ehelichen Pflichten für einige Zeit freigestellt ist. Die Schlaf-und Beruhigungstabletten darf sie nicht mehr nehmen, solangesie stillt. Aber sie ist jetzt sowieso immer müde. Und wenn sie doch mal etwas aufregt, wie neulich das mit den Entlassungen, hat sie ja immer noch die Tabletten. Ihre Friedensbonbons.
Klaus beginnt zu weinen. Vicky nimmt ihn auf, setzt sich in den Ohrensessel, schiebt den Pullover hoch, knöpft den Stillbüstenhalter auf und legt den Säugling an die Brust. Seine Hand patscht an ihr herum, sie schaut in ein Buch. Das hat sie sich beigebracht, beim Stillen mit einem Arm das Kind zu halten und mit der freien Hand ein Buch. Umblättern ist schwierig, aber nicht unbedingt notwendig. Sie hat die Seiten aufgeschlagen, auf denen am häufigsten der Name des Helden vorkommt, der Harry heißt.
Die Brustwarze schmerzt. Sie nimmt den Säugling von der linken Brust und legt ihn an die rechte. Mehrere jüdische Mitarbeiter sollten bei Jonass entlassen werden. Um sich bei der staatlichen Handelskammer ein wenig aus der Schusslinie zu bringen, wie Gerd meinte. Sie hat ihn angeschrien, ob man als Nächstes vielleicht die Besitzer entlassen wolle? Da hat Gerd sie kalt gemustert und gefragt, ob sie persönliche Gründe habe, sich für die Juden in die Bresche zu werfen? Statt einer Antwort ist sie schweigend hinausgegangen, hat im Badezimmer in der Stofftasche mit Binden nach den Tabletten gekramt und mit dem Rücken zum Spiegel zwei auf einmal hinuntergespült. Kurz darauf konnte sie mit Gerd auf dem Sofa sitzen, den Kopf an seine Schulter gelehnt, und auf Harrys Grammofon Beethoven hören. Alles war ihr recht.
Das Schmatzen und Saugen an der Brustwarze lässt nach, hört ganz auf. Sie nimmt den Kleinen von der Brust. Auch er sieht jetzt aus, als wenn ihm alles recht ist auf der Welt. Das ist schön, nicht wahr, Kleiner, wenn einem alles recht ist. So schön, dass man es immer wieder haben will.»Eher zünde ich das Haus an, als dass es auch noch diesen Nazis in die Hände fällt!«, schreit Carola im Wohnzimmer der alten Villa in Lichterfelde. Durch das Fenster in ihrem Rücken fällt Sonne auf ihr blondes Haar. Alice hält sich an der Lehne des hohen Sessels fest und presst ein Taschentuch gegen die Brust. Carola beachtet sie nicht. Ihr ganzer Zorn ist auf den Bruder gerichtet, der gemeinsam mit dem Vater dabei ist, ihr Elternhaus ausgerechnet an die Helbigs zu verschachern.
Harry steht einige Meter entfernt im Schatten. »Helbig bekommt das Haus und wird dafür bezahlen. Jemand anders kriegt es, und wir gehen leer aus. Oder sollen wir warten, bis sie uns auch hier die Scheiben einwerfen und hinterher Strafgeld kassieren wie im Jonass? Reichskristallnacht, so heißen im neuen Reich die Feiertage.« Alice beginnt zu schluchzen. Harry tritt zu seiner Mutter und legt
Weitere Kostenlose Bücher