Torstraße 1
nicht so gerne. Aber sie will doch Bernhard alles erzählen, und dass er ein Junge ist, da kann er ja nichts dafür. Sie dreht das Blatt um und malt einen Teich, in dem Frösche mit Kronen schwimmen und goldene Goldfische. In ihrem Garten gibt es auch einen Teich mit Goldfischen, die aber bloß rot sind. Warum denn die alten Besitzer die Fische nicht mitgenommen haben, hat sie gefragt. »Ach, die sind über den großen Teich gefahren«, hat ihr Vater gesagt und gelacht, »da gibt es Fischegenug.« Mama hat ihn böse angesehen und ist aus dem Zimmer gegangen.
In letzter Zeit muss man sich über Mama oft wundern. Die meiste Zeit schaut sie in die Luft und durch einen hindurch. Aber wenn man sich umdreht, um zu sehen, was Mama sieht, ist da nur ein Schrank oder eine Lampe oder ein Strauch. Oder vorhin, da hat Mama ihr über die Schulter ins Lesebuch geschaut und angefangen, laut vorzulesen: »Ich weiß nicht, was soll es bedeuten, dass ich so traurig bin«, und dabei selbst ganz traurig geklungen. Plötzlich hat sie verächtlich geschnaubt. »Was heißt das denn: Verfasser unbekannt? Das ist von Heine. Heinrich Heine. Ein großer deutscher Dichter.« Wer hätte das gedacht, dass ihre Mutter mehr weiß, als in den Schulbüchern steht! Und dann wieder hat sie überhaupt keine Ahnung, zum Beispiel, wenn es um den BDM geht. Schon ewig freut Elsa sich darauf, ein Jungmädel zu werden, wenn sie endlich zehn wird. Bald ist es so weit. Und ihre Mutter wollte sie nicht gehen lassen! Es wäre doch viel schöner, hier im Garten zu spielen, auch Bernhard könnte öfter einmal kommen. Aber Bernhard geht ja, wenn er zehn wird, auch zur Hitlerjugend, obwohl sein Vater dagegen ist. Vielleicht hat die Lehrerin recht, dass manche Eltern nicht begreifen, was in der neuen Zeit wichtig ist. Sie leben noch im Gestern und Vorgestern. Die Jugend, hat Frau Reinhard gesagt, ist Deutschlands Zukunft! Zum Glück hat ihr Vater sich durchgesetzt. »Es ist eine Ehre für ein deutsches Mädel, im BDM zu sein«, hat er gesagt, und an Mama gewandt: »Nur die Kommunisten- und Judenkinder bleiben zu Hause.«
Ein bitterer Geschmack liegt Vicky auf der Zunge, die Lider fühlen sich schwer an, zu schwer, um die Augen zu öffnen. Langsam kommt sie zu sich und erschrickt. Es ist mitten am Tag, Elsas zehnter Geburtstag. Es gibt noch so viel vorzubereiten! Sie muss eingeschlafen sein, als sie Werner ins Bettchen gelegt hat.Vielleicht hätte sie auf die Tabletten nicht noch Likör trinken dürfen. Als sie vorhin die Flasche aus dem Schrank geholt hat für die Gäste, wollte sie nur ein Gläschen probieren, ob er auch gut genug ist. Vicky richtet sich auf, ihr wird schwarz vor Augen. Steht die Flasche noch offen herum? Wo ist Klaus? Sie muss sich an der Kommode festhalten.
In der Küche sitzt der kleine Klaus auf dem Steinfußboden und spielt mit den Zutaten für Elsas und Bernhards Geburtstagstorte. Er ist von Kopf bis Fuß mit Mehl bestäubt, Mund und Hände sind mit Schokolade verschmiert, die Geburtstagskerzen geknickt und zerbrochen. Die Likörflasche auf der Anrichte ist umgefallen, dicke gelbe Flüssigkeit hat sich über das Holz bis auf die Fliesen ergossen. Vicky springt zu Klaus, nimmt ihn auf, riecht an seinem Mund. Ein süßer Geruch nach Schokolade, sonst nichts. Gott sei Dank! Plötzlich packt sie die Wut. Sämtliche Vorbereitungen sind zunichtegemacht. Wo soll sie so schnell eine neue Torte auftreiben? Unsanft setzt sie den Jungen auf den Küchenboden. Da sitzt der verfressene Bursche mit seinen Patschhänden und grinst. »Guck nicht so!«, schreit sie ihn an. »Ich kann deine Visage nicht mehr sehen!«
Klaus beginnt zu weinen, dicke Tränen ziehen Spuren durch den Mehlstaub auf seinen Wangen. Vicky schnappt ihn, zieht die schmutzigen Kleider aus, stellt ihn in die Wanne und schrubbt mit einer Bürste über die nackte Haut.
Ein paar Stunden später sind alle Spuren beseitigt. Die Küche ist aufgeräumt, der Konditor hat eine neue Torte geliefert. »Elsa und Bernhard«, steht da in himmelblauem Zuckerguss, und in der Mitte prangt eine große Zehn. Elsa ist aus der Schule zurück, hat ihr neues Kleid angezogen und sich Schleifen in die geflochtenen Zöpfe binden lassen. Auch die kleinen Brüder sind herausgeputzt. Vicky faltet die weißen Stoffservietten, sodass sie wie kleine Eisberge vor den Tellern stehen. Die Gäste können kommen. Es ist die erste Einladung in ihr neues Zuhause, siemöchte, dass alle Villa und Garten bewundern. Elsa freut
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