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Torstraße 1

Torstraße 1

Titel: Torstraße 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sybil Volks
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tut nicht einmal mehr weh, das zu denken. Inzwischen ist es selbstverständlich geworden, Opfer für die Partei zu bringen, da fragt keiner mehr nach einer Rothaarigen, die mit ihren kleinen Fäusten einen Trommelwirbel auf seiner Brust schlug, wenn sie kam. Manchmal ist ihm heute danach, Karla zu bitten, das Gleiche zu tun.
    Unter Mariannes Briefen, die Bernhard sorgfältig zurück in die Kuverts packt, liegt ein dicker, fest verschnürter Stapel Briefe von Elsa, mit ihren klaren Worten und verspielten Zeichnungen. Und das wenige, was er sonst von ihr besitzt. Eine billige Kette mit einem Kleeblattanhänger, die sie ihm als kleines Mädchen mit ernstem Gesicht geschenkt hatte, als sie sich verlobten, Elsa und er, hinter dem Fliederbusch. Ein Foto von ihrer Hochzeit, Elsa an Stephens Arm, mit wehendem Schleier unter einem Regenschirm, und im Hintergrund, in der Gruppe der Gäste, er mit Marianne. Ein Bild von Elsa mit ihrer Tochter Stephanie und eines mit ihren beiden Kindern, nachdem der Junge geboren war, das alles gehört auch noch zu Elsa.
    Er legt die Fotos zurück in den Karton. Da fällt ihm ein versilberter Tannenzapfen in die Hände, und der führt geradewegs zu einem Weihnachtsfest, an das er nicht gern zurückdenkt. Ein wahres Elsadesaster war das Fest ’45. Erst viele Jahre später, ausgerechnet in diesem denkwürdigen Sommer, hat sich das Desaster in ein flüchtiges Glück gewandelt, einmalig, unwiederholbar und vielleicht ein großer Fehler. Aber wer mag das sagen. Am Ende ist es womöglich so, dass diese gestohlene Stunde ihm zu einer der glücklichsten seines Lebens gerät.
    »Möglich ist es«, murmelt er und denkt an eine Linie vom Kinn hinab in den Ausschnitt des Kleides und einen kleinen Juchzer, der den Ausschlag gab. »Frauen«, flüstert Bernhard. »Elsa«, flüstert er hinterher und ruft sich im gleichen Augenblick zur Räson. Besser an Weihnachten ’45 denken.
    Vicky, Elsie, Klaus und Werner waren schon zu Bett gegangen. Bernhard erinnert sich an den Geruch in der Wohnstube, den Geruch nach Weihnachten. Dort, im löchrigen Dachgeschoss der Villa, hatte er auf dem Sofa geschlafen, weil anderswo kein Platz war. Und Elsa war in der Nacht gekommen, um von den Essensresten zu naschen. »Erwischt!«, hatte er leise vom Sofa gerufen und damit den Anfang gemacht. Sie war unter seine dünne Decke gekrochen, durch die Dachluke schienen die Sterne herein, und sie saßen da und passten höllisch auf, sich nicht zu berühren. Elsa, mit der er noch wenige Jahre zuvor nach Amerika abhauen wollte, war in der kurzen Zeit ihrer Trennung hoch aufgeschossen, unter ihrem Nachthemd zeichneten sich rund und schön ihre Brüste ab. Ihre hellbraunen Haare fielen offen auf ihre Schultern und knisterten, als er sie im Dunkeln aus Versehen berührte. Das müssen die Hormone gewesen sein, denkt er heute, mit sechzehn machen die mit dir, was sie wollen. Aber damals auf diesem Sofa konnte er sich kaum bewegen vor lauter Sehnsucht nach Elsas Haut und Haar und allem, was man vielleicht damit anstellen konnte, ohne genau zu wissen, wie es gehen sollte. Nie wird er vergessen, wie peinlich und beglückend der Moment war, da alles Blut in eine Richtung zu fließen schien und ein Begehren sichtbar machte, von dem er bis dahin gar nicht gewusst hatte, dass es mit Elsa verbunden war. Und dann hatte sie ihn zurückgestoßen. Nicht nur das, denkt Bernhard, geradezu abgewehrt hat sie mich, als wollte ich ihr Gewalt antun.
    Und hier steht er nun, vierzehn Jahre später, hält einen versilberten Tannenzapfen in den Händen und spürt noch einmaldie gleiche Scham, verbunden mit einer unerklärlichen Wut auf das andere Geschlecht. Als sei Elsa schuld daran, dass er die Frauen nicht versteht und doch nicht von ihnen lassen kann. Bernhard legt den Tannenzapfen zurück in den Karton. Das einzige Erinnerungsstück an dieses Weihnachten nach Kriegsende. Eine silbern glänzende kleine Entschuldigung von Elsa oder eine Erklärung, er hatte das nicht verstanden. Erst später, als seine Wut schon ein wenig verraucht war, hatte er gedacht, dass seine Freundin recht haben mochte, wenn ihr eine Liebesbeziehung mit ihm frevelhaft vorkam. Wie oft hatten Vicky und Wilhelm davon geredet, dass sie beide wie Geschwister seien, auf ewig durch die Bande ihrer außergewöhnlichen Geburt zu gleicher Stunde verbunden. Geschwister begehrten einander nicht. Vielleicht war es das, was Elsa ihm damals zu verstehen geben wollte. Heute spielte das keine Rolle mehr.

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