Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Torstraße 1

Torstraße 1

Titel: Torstraße 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sybil Volks
Vom Netzwerk:
den Keller, in dem es Ratten und Spinnen gibt, deshalb kann der Karton ruhig hier stehen. Und darauf warten, dass es in einer größeren Wohnung auch einen kleinengeheimen Platz für ihn geben wird. Heute, mag sein, weil Weihnachten ist, kann Bernhard nicht widerstehen. Er stellt die Kohlenkiste und den Eimer in den Kellergang und geht noch einmal zurück zum Karton. Lüpft den Deckel, um zu sehen, was obenauf liegt, und kommt sich kindisch vor. Mit dreißig sollte man ein wenig abgeklärter sein. Aber es ist Weihnachten, mit oder ohne Geburt Jesu ein besonderer Tag. Zumindest einer, an dem man sich wohl mal erinnern darf.
    Obenauf im Karton liegen Briefe von Marianne. »Ach Liebster«, so beginnen sie alle. »Ach Liebster, wieso sind die Zeiten so, dass wir nicht zusammen sein können?« Die kleine quicklebendige Marianne mit den roten Haaren, mit losem Mundwerk und Zauberhänden hatte ihm völlig den Kopf verdreht. Da war er noch neu in der Redaktion, nicht mehr als ein Botenjunge, der den Redakteuren ein bisschen über die Schulter schauen durfte, wenn es nichts anderes zu tun gab. Und manchmal hat ihm einer was in die Hand gedrückt und gesagt: »Geh da hin, hör dir das an und mach mir zwanzig Zeilen draus.« Dann ist er losgezogen und hat sich gefühlt wie Kisch, der rasende Reporter.
    Was für ein seltsames Paar wir waren, denkt Bernhard und faltet noch einen Mariannebrief auseinander. Der Botenjunge und die Sekretärin. Bei der Zeitung sah man die Verbindung erst mit Wohlwollen und dann mit Unmut. Als aus dem Botenjungen, der immer öfter loszog, um Zeilen zu schreiben, ein Redakteur werden sollte. Marianne war und blieb die Tochter eines Nationalsozialisten, der die schwarze Uniform getragen und wer weiß was getan hatte. Und Bernhard sollte nach dem Willen der Parteileitung zum Journalistikstudium nach Leipzig geschickt werden. Als Sohn eines sozialdemokratischen Arbeiters, der Mitglied der SED geworden war, schien er ideal für diese Aufgabe, die ihm zugleich als Auszeichnung, Ehre und Verpflichtung verkauft wurde. Sein Vater, der Zimmermann Wilhelm Glaser, stand für alles, was die Partei wollte und wasihr gefiel. Übergelaufen zu den Russen in den letzten Kriegstagen und heimgekehrt mit der Roten Armee. Bernhard konnte nach dem Glauben und Willen der Genossen nicht weit vom Stamm gefallen sein.
    »Wenn’s dir nützt, Junge, rede ich nicht über den anderen Teil der Geschichte«, hatte der Vater ’46 zu ihm gesagt. Da war er gerade heimgekehrt und wusste mehr über die ruhmreiche Rote Armee als manch anderer. Wahrscheinlich auch mehr, als er wissen wollte. Er sieht den Vater vor sich, wie er aus dem Krieg kam als kranker Hungerleider, ein bisschen Wahnsinn in den Augen, eine neue Schwere in den Bewegungen und nachts von bösen Träumen heimgesucht. »Im Krieg werden alle zu Verbrechern« war der einzige Satz, den er damals fast täglich zu hören bekam. Manchmal schien es Bernhard, als machte der Vater einen Versuch, ihm von den letzten Kriegsmonaten zu erzählen. Einmal hatte er ihn gefragt, wo der Freund Arno geblieben war, der Kommunist und Rotfrontkämpfer. »Im Lager«, hatte Wilhelm gesagt. »Den Arno haben sie erhängt und deinen Freund Robert Weinberg ins Gas geschickt. Und wenn er da nicht ins Gas gemusst hätte«, hatte er hinzugefügt und den Satz zugleich mit einer Handbewegung weggewischt, als putzte er eine Tafel blank, »wäre wahrscheinlich Stalin sein Tod geworden.« Damals fand er die Bemerkung seines Vaters so absonderlich, dass er nicht nachfragen mochte. Stalin hing noch an jeder Wand und schwebte über allen und allem, was man tat und nicht tat. Da konnte es nicht gut sein zu erfahren, wieso der kleine Robert beim großen Natschalnik nicht gelitten gewesen wäre. Und vielleicht war dem Vater im Kopf doch nur das eine und andere durcheinandergeraten.
    Bernhard dreht und wendet den Mariannebrief und faltet ihn wieder ordentlich zusammen. Marianne, die brauchte keinen Stalin, der sie um ihre Chancen brachte, die hatte ihren braunschwarzen Vater. Als er nach Leipzig zum Studium ging, bliebsie zurück. Klüger als er war sie, und wahrscheinlich hätte sie das Studium mit links und vierzig Fieber gemacht. Ihm ist es nicht leichtgefallen. Das Studium nicht und auch nicht der Verzicht auf Marianne, welcher allerdings eine Art Aufnahmeprüfung für das Studium zu sein schien. Und er wollte studieren. Er wollte schreiben. Mein erstes Opfer für die Partei war Marianne, denkt Bernhard, und es

Weitere Kostenlose Bücher