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Torstraße 1

Torstraße 1

Titel: Torstraße 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sybil Volks
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Sie hatten beide ihr Begehren an anderen ausgelassen und ihren Platz gefunden. Und nur einmal waren sie von diesem Weg abgerückt. »So was verjährt und verwächst sich«, sagt Bernhard laut in den Keller hinein.
    »Bist du noch unten?«, ruft Karla vom oberen Ende der Kellertreppe. »Es ist kalt, und dein Vater kommt jeden Augenblick.«
    »Bin gleich fertig«, ruft Bernhard die Treppe hinauf. Eine kleine Lüge mehr, denkt er. Weil Weihnachten ist. Er stellt die gefüllte Kohlenkiste neben den Kachelofen im Wohnzimmer und den Eimer dazu. Karla schmückt den Weihnachtsbaum. »Für Luise«, hat sie gesagt, als hinge davon alles Glück der Welt ab, »brauchen wir einen Baum.« Also ist er losgezogen und hat sich angestellt und einen Baum gekauft, der ganz leidlich aussah. Die Baumkugeln allerdings sehen wirklich schön aus, stellt Bernhard fest und hat auf einmal das Gefühl, dies wird ein gutes Weihnachtsfest. Wilhelm wird da sein, und Marie will kommen, auch Charlotte hat versprochen, Bescherung und Essen mitzumachen.
    »Ich komme allein, Bruderherz«, hat sie gesagt, als wäre ihm etwas anderes im Sinn gewesen. Charlotte kam immer allein. Weiß der Teufel, wo sie ihre Lust und Liebe hinpackte. Manchmal schien es ihm, als verhelfe ihr die Partei sogar in dieser Hinsicht zu allem Notwendigen. Ein blöder Gedanke, ruft er sich zur Ordnung, es ist doch bewundernswert, wie seine Schwester sich einer Sache verschrieben hat. Nicht so halbherzig wie er, der in der Partei war, aber jede Versammlung mied, fürs Neue Deutschland schrieb, doch wenn irgend möglich über abstrakte und abseitige Themen. Der Ehemann und Vater war und gleichzeitig … Er baut im Kachelofen einen kleinen Scheiterhaufen aus Holzscheiten und stopft ein zerknülltes Neues Deutschland unter das Holz. Er sieht wieder vor sich, wie hysterisch Charlotte sich gebärdet hat, als Stalin gestorben ist, und noch heute wird ihm ganz elend bei der Erinnerung. So benehmen sich nur Verrückte oder ganz Fanatische, hat er gedacht, aber doch nicht seine sonst so kluge große Schwester, die in den letzten Kriegstagen in der Stadt geblieben war und Widerstand geleistet hatte. Im Gegensatz zum Vater erzählt Charlotte gern und oft von diesen letzten Tagen. Als die Russen in Berlin einmarschierten, sprach sie deren Sprache, gelernt von den kommunistischen Genossen. Manchmal lässt er sich von Charlottes Begeisterung anstecken, nur um sich im nächsten Augenblick für diesen Überschwang zu schämen. Am 7. Oktober hat er sich überreden lassen und ist mit ihr zum Fackelumzug gegangen. »Zehn Jahre Republik«, hat die Schwester gesagt, »das muss man feiern.« Ihm ging es nicht gut dabei. Die Fackeln erinnerten ihn an andere Fackeln und die Reden zuweilen an andere Reden.
    »Luise hat ein wenig Fieber«, sagt Karla, gerade als der kleine Scheiterhaufen perfekt geschichtet ist. »Meinst du, wir sollten mit ihr zum Arzt gehen?«
    Erschrocken reißt Bernhard das Mädchen vom Fußboden hoch, wo es selbstvergessen mit ein paar Bauklötzen gespielthat. Luise fängt an zu weinen und will sich losmachen. Er hält sie fest, schaut ihr in die Augen und legt ihr eine Hand auf die Stirn. Die ist warm, aber nicht heiß. »Kannst du mit dem Kopf nicken?«, fragt er Luise, die ihn lächelnd ansieht und mit dem Kopf nickt. Er murmelt etwas von Hirnhautentzündung und dass man dann den Kopf nicht mehr bewegen könne, weil das Genick steif werde.
    Karla nimmt ihm Luise aus dem Arm und drückt ihm einen Kuss auf die Wange. »Ich glaube, es ist nur die Aufregung. Lass uns abwarten.«
    Karla hat recht, das hier hat mit dem kleinen Arno nichts zu tun. Bernhard ist froh, dass sie so reagiert. Es gibt Zeiten, da sieht sie in allem, was geschieht, ein Unglück heraufziehen. Die gleiche Schwermut wie Martha, denkt er dann, und dass die Mütter noch so lange verschwunden sein können, sie geistern doch durch das eigene Leben und lassen einen nicht los. Er küsst Karla auf den Mund, und es schmerzt ihn, wie sie ihn anschaut. So froh und zugleich – überrascht.
    Gerade als Bernhard das Streichholz in den Kachelofen hält und das Beste hofft, klingelt es. Wilhelm bringt einen Sack Kartoffeln, eine Flasche süßen Wein und feuchte Kälte mit. »Aber jetzt reißt der Himmel auf«, sagt er und schiebt Bernhard vom Ofen weg. Trotz der kleinen Flammen, die da schon züngeln, schichtet er das Holz noch einmal um, und sie schlagen höher, sodass man schon zwei, drei Briketts drauflegen kann. Er greift in

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