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Torstraße 1

Torstraße 1

Titel: Torstraße 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sybil Volks
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die Flammen, als gäbe es keine Brandblasen auf der Welt. Karla lacht und fragt, warum Wilhelm Bernhard nicht auch ein paar nützliche Dinge vererbt hat. Wilhelm zwinkert ihr zu. »Lass uns eine Runde laufen, Junge«, sagt er zu Bernhard.
    Bernhard weiß genau, von welcher Runde hier die Rede ist. Wilhelm setzt sich die Schirmmütze auf, mit der er immer ein bisschen verwegen aussieht. Mein Vater wird bald sechzig, denkt Bernhard plötzlich. Er ist schon fast ein alter Mann. Als spürteer diesen Gedanken, strafft Wilhelm die Schultern, drückt die Knie durch und reißt schwungvoll die Wohnungstür auf.
    Fünf Minuten sind es bis vor zur Stalinallee. Wilhelms liebste Straße, wie er immer sagt, auch wenn sie Stalin gehört. Am Strausberger Platz redet er von den Acht- und Zehngeschossern, die hier bald stehen werden. Und dann wird man bauen bis runter zum Alexanderplatz. Daran hätte Wilhelm gern mitgearbeitet, aber nun ist er im Heinrich-Heine-Viertel und baut die Q-3-Wohnungen: Einbauküche, Bad und WC. »Wenn die stehen«, sagt er, »müsst ihr euch bewerben.«
    Bernhard weiß, wohin es Wilhelm zieht. Inzwischen kennt er das Haus an der Wilhelm-Pieck-Straße, die sein Vater noch immer Lothringer nennt, auch von innen ziemlich gut. Das neue Haus der Einheit und nicht mehr das Jonass aus Kindertagen. Monatelang hat er da gesessen und sich mit der Arbeiterpresse in der Weimarer Republik beschäftigt. In dieser Zeit ist ihm der Vater gründlich auf die Nerven gegangen, mit all seinen Fragen, wie es drinnen aussieht, in welchen Räumen wer und was untergebracht und ob noch zu erkennen sei, wie schön einmal das Kaufhaus ausgesehen habe. »Eigentlich nicht«, hat Bernhard gesagt und konnte sehen, wie enttäuschend Wilhelm das fand. Als hätte das Jonass einmal ihm gehört und nicht fremden Menschen. Und als Bernhard und Karla sich ein Radio und einen Küchenschrank auf Teilzahlung kauften, geriet der Vater ganz aus dem Häuschen. Wieder und wieder erzählte er, wie Martha bei Jonass auf Pump gekauft hatte und wie sie regelmäßig ihre Raten zu Vicky brachten. »Heute ist das ja kein Problem«, hat Wilhelm sich ereifert. »Der Staat lässt solche wie uns nicht verhungern. Aber damals, in den Dreißigern. Es hätte doch jederzeit wieder eine Krise geben können.«
    Bernhard wirft einen Seitenblick auf seinen Vater, der zielstrebig und mit erwartungsvollem Gesicht Richtung Wilhelm-Pieck-Straße läuft. Er hat sich schon oft gefragt, ob Wilhelmdamals ein bisschen verliebt in Vicky gewesen ist. Manchmal kommt er richtig ins Schwärmen, wie schick und apart sie immer aussah, obwohl doch das Geld lange Zeit mehr als knapp war. Und mehr noch darüber, dass sie eine Frau war, die sich nicht unterkriegen ließ. »Was die lachen konnte«, sagt Wilhelm immer, wenn er auf dieses Thema kommt. »Egal, wie schlimm die Zeiten waren, Vicky blieb eine Kämpferin.«
    Bernhard ist noch nicht nach Jonass und Haus der Einheit zumute. Eher nach Umwegen und Glühwein. Er lenkt den Vater Richtung Alexanderplatz. »Wollen wir«, fragt er und stellt sich in die lange Warteschlange vor dem Glühweinstand, denn man hat gelernt, sich anzustellen, noch bevor die Entscheidung gefallen ist. Weggehen kann man immer noch, wenn es doch kein Glühwein werden soll. Aber Wilhelm nickt und reibt sich die Hände. Dann stehen sie schweigend nebeneinander und trinken das heiße, süße Gesöff, als jemand Bernhard von hinten auf die Schulter schlägt.
    »Was machste denn hier, Bernie, ich denk, deine Frau lässt dich nicht raus am Heiligen Abend?«
    Bernhard dreht sich um und steht Ulrich gegenüber, einem Kollegen aus der Redaktion, zuständig fürs Lokale und sonstige Errungenschaften, wie der es immer nennt. Ein Trinker vor dem Herrn, aber nie einen Termin verpassen und immer ausreichend Zeilen abliefern, so ist Ulrich.
    Bernhard macht seinen Vater mit dem Kollegen bekannt, und Ulrich erklärt, dass er noch was schreiben muss über die Baustellen in der Stadt. Ob da auch am Heiligen Abend fleißig geschuftet werde, müsse er berichten, und wie die Schlacht für den Frieden gekämpft wird. Ulrich hat auf dem Bau gelernt, bevor er Reporter wurde, Polier ist er gewesen, und so fachsimpeln er und Wilhelm sich warm. Gerade erklärt er dem Zimmermann, wie das Problem mit dem Materialengpass wohl im Neuen Deutschland klingen wird, wenn man es denn überhaupt aufschreibendarf. »Wo einst ein typisches Arbeiterviertel aus der kapitalistischen Vergangenheit gestanden

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