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Torstraße 1

Torstraße 1

Titel: Torstraße 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sybil Volks
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die Dinge, über die auch er später mit ihm reden will, wenn die Zeit jemals kommt. Über den Tag zum Beispiel, als Martha verschwand. Über die Jahre danach, in denen sie sich in dieser Sache beinahe feindlich gegenüberstanden, statt einander zu trösten. Manchmal denkt Bernhard, dass es nach zwanzig Jahren an der Zeit wäre für eine Entschuldigung. Dass der Vater endlich einmal sagen könnte, es tue ihm leid, dass er ihn damals zwingen wollte, an den Tod der Mutter zu glauben. Nur weil das Leben ihm und den anderen leichter fiel mit einer toten als mit einer verschwundenen Martha. Und sie deshalb glaubten, für ihn müsse es genauso sein. Aber vielleicht wartet der Vater ja ebenso auf eine Entschuldigung für die Jahre, in denen er ihm und Charlotte und Marie das Leben noch schwerer gemacht hatte, als es ohnehin war, ohne Martha und mit Hitler und dem Krieg.
    Tatsächlich kommen Wilhelm und er noch hinein ins Institut. Bernhard kennt den Mann am Einlass, der ihn durchwinkt und nicht nach Ausweis und Anliegen fragt. Sie laufen treppauf und treppab, und Wilhelm versucht in jeder Etage zu erklären, washier früher war und verkauft wurde. Wie es ausgesehen hat in seinen guten Tagen, dieses Haus, bevor sich das braune Gesocks mit seinem Reichsjugendführer hier breitmachte.
    »Wenn dieser Scheißkrieg länger gedauert hätte«, sagt er, »wärst du wahrscheinlich in der Uniform gestorben.«
    Bernhard nickt und denkt an die Zeit, da er zumindest schon in eine Uniform steigen musste. Als er zum ersten Mal losstiefelte in den hellbraunen Klamotten, war sein Vater ein Bier trinken gegangen, wie er sagte, und lange nicht wiedergekommen. Und dann ist Baldur von Schirach in sein Haus gezogen, das er gebaut und geliebt hat, und dessen Nachfolger, dieser Axmann.
    »Warst du jemals hier, als von Schirach drin hauste?«, will Bernhard wissen, und Wilhelm schüttelt den Kopf. Wozu sollte er hier gewesen sein, nachdem sie Grünberg verjagt hatten, aus dem Geschäft und aus dem Land. Bernhard denkt an Robert, den sportlichen, klugen Robert, an Onkel Arno und an Martha, die zu allem anderen nicht auch noch einen weiteren Krieg ertragen konnte. Fast wäre er eingeknickt, als sie ihm damit gekommen sind, die Männer von der Stasi. Mit den alten Nazis, die westlich der Elbe wieder das Sagen kriegen. Aber zum Glück hat er sich die Frage gestellt, was dies wohl mit seiner Elsa zu tun haben könnte.
    Und sein Vater ist heute auf der Suche nach dem Raum, in dem Elsa geboren wurde, begrüßt von einer rauchenden alten Hexe und einem verunsicherten jungen Zimmermann. Aber wo ist der Raum, in dem der Packtisch damals stand?
    »Vielleicht im Erdgeschoss«, sagt Bernhard und schiebt den Vater vor sich her. Jetzt will er langsam nach Hause zu Karla und Luise, damit ihm nicht ganz schwummrig wird von den Erinnerungen an jene Sommernacht in der Bibliothek.
    Wilhelm ist sich nicht sicher. Es könnte schon sein, aber alles sieht anders aus als in der Erinnerung. »Zeig mir doch mal dieBibliothek«, sagt er plötzlich, »in der du so viele Stunden und Überstunden verbracht hast.«
    Ausgerechnet, denkt Bernhard und sucht nach einem Ausweg. Vielleicht sollte er behaupten, die wäre schon geschlossen, überlegt er, verwirft den Gedanken und führt den Vater resigniert in die Bibliothek. Das hätte er gern vermieden, hier heute zu stehen und dann doch daran denken zu müssen, wie es mit Elsa war. Zum Glück nimmt sich der Vater einen Zeitungsband aus dem Regal, in dem auch Artikel von ihm gedruckt sind, und setzt sich an einen der Tische, um darin zu schmökern. Bernhard lässt den Vater sitzen und schleicht in den Katalograum, betrachtet Wände und Tische, als müssten da noch Spuren zu finden sein.
    Er hatte den halben Tag hier im Institut in der Arbeitsgruppe gesessen, die für die neue Zeitschrift zuständig war, in der man sich auf allen Seiten ausschließlich und ausführlich mit der Geschichte der Arbeiterbewegung beschäftigte. Darüber schreibt er ja auch oft im Neuen Deutschland, was ihm ausreichend Grund gibt, immer wieder hierherzukommen, in die Bibliothek, ins Haus. Um zu recherchieren und mit den Genossen über Artikel zu reden, die er schreiben will. »Bernie, was hat das denn alles mit dem Leben da draußen zu tun?«, fragt Ulrich oft, wenn er mit neuen Themenvorschlägen in die Redaktion kommt. Doch vielleicht war es ja gerade das, was ihn immer öfter hierherzog, weg aus der Redaktion mit den tagespolitischen Themen. Dass »das

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