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Torstraße 1

Torstraße 1

Titel: Torstraße 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sybil Volks
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hatte, das im Feuersturm des anglo-amerikanischen Luftangriffs vom 3. Februar 1945 untergegangen war«, formuliert Ulrich aus dem Stegreif, »bauen nun vier Arbeiterwohnungsbaugenossenschaften aus Berliner Großbetrieben ein großzügig angelegtes und durchgrüntes Wohngebiet. Auch bei Frost und Schnee schlagen sie jeden Tag von Neuem die Schlacht gegen widrige Bedingungen und um die vorfristige Erfüllung des Plans.«
    Wilhelm ist begeistert und haut Ulrich auf die Schulter. »Genau so«, ruft er. »Jetzt nur noch ein Satz zu den Materialengpässen.«
    »Der fliegt dann raus«, sagt Ulrich und sieht auf einmal müde aus.
    Bernhard drängt zum Aufbruch. Wilhelm stiefelt vor zur Liebknechtstraße, und endlich stehen sie auf der gegenüberliegenden Straßenseite, mit dem Rücken zum Friedhof, auf dem der Wessel begraben liegt, und schauen aufs Jonass, das jetzt eine Kaderschmiede ist und das Institut für Marxismus-Leninismus. Wilhelm sagt erst mal gar nichts. Bernhard ist es recht so. Für die alten Geschichten ist es ihm hier zu zugig. Noch lieber aber wäre er jetzt einen Moment lang mit sich allein. Dieser Wunsch nach Alleinsein kommt ihm unpassend vor, noch dazu an Weihnachten. Und bevor er sich stoppen kann, prescht er in Gedanken zurück in den Sommer, der so schön gewesen ist und so aufregend am Ende.
    »Wie geht es Elsa«, fragt Wilhelm, und Bernhard erschrickt, weil er nun doch, für einen Moment nur, glaubt, der Vater wüsste um den einen Abend, den er drüben im Institut mit Elsa verbracht hat. Und weil er jetzt und überhaupt mit Wilhelm darüber nicht reden will, auch wenn es ihn drängt, wenigstens einen Menschen zu haben, der weiß, was war, erzählt er eine ganz andere Geschichte. Wie sie ihn beim Studium in Leipzig gefragthaben, ob er sich nicht öfter mal mit seiner Freundin Elsa treffen möchte. Ob er nicht den Wunsch habe, die alte Freundschaft wieder fester werden zu lassen, und da sei man auch gar nicht dagegen, schließlich rede man hier von einer engen und langjährigen Beziehung. Und es sei, im Dienste der Sache natürlich, auch nichts Schlimmes dabei, mit dieser Elsa ein wenig über die Lage in Westberlin zu reden, darüber, wie die Stimmung ist bei den Menschen, worüber sie sich ärgern oder freuen. Die Mutter sei doch früher mit einem Nazi verheiratet gewesen, wenn man es jetzt richtig im Kopf habe. Und Elsa selbst lebe mit einem Amerikaner, der beim Feindsender arbeitet, dem schlimmsten von allen. Ob er den denn schon kennengelernt habe, diesen Amerikaner? So haben sie mit ihm geredet in Leipzig, in einem Seminarraum, in den er bestellt worden war. Da dachte er zuerst, es handle sich um ein Kadergespräch. Kadergespräche gab es ständig, und immer ging es um Standpunkte, Verpflichtungen, den Schwur auf die gute Sache.
    Wilhelm kneift die Augen zusammen und dreht sich eine von diesen stinkenden Machorkas, bei denen es Bernhard fast den Magen hebt. »Was waren das denn für Jungs?«, fragt er und stößt eine dicke Wolke aus dem Mund.
    »Na, was wohl für welche.« Bernhard lacht leise. »So einer wie ich kam denen doch gelegen, mit einer Freundin in Westberlin, die man mal dies und das fragen kann und die auch noch mit einem Amerikaner verheiratet ist.«
    »Und wie hast du dich aus der Affäre gezogen?«
    Bernhard wundert sich, dass der Vater so selbstverständlich annimmt, er habe sich den Wünschen der Genossen vom Staatssicherheitsdienst entgegengestellt. Als ob das so einfach gewesen und klar wäre, dass ihm deren Anliegen nicht auch verständlich vorkam. Schließlich lebte man mitten im Kalten Krieg, und die Amerikaner waren auch nicht zimperlich darin, ihre Schlachten zu schlagen. Wenn es nicht um Elsa gegangen wäre, wer weiß.Das zweite Glück in dieser Angelegenheit war, dass der MfS--Offizier, der immer in Zivil und überhöflich daherkam, die Verschlagenheit aus allen Poren schwitzte. Wäre es ein Sympath gewesen, so ein netter Kumpel, mit dem man gern mal ein Bier trinkt – solche hatten sie doch auch beim MfS. Männer, die einen ins Boot holten, indem sie sagten: Du willst doch auch nicht, dass es wieder Krieg gibt. Wir müssen wachsam sein. Das sind wir den Toten schuldig.
    »Ich habe taktiert und hingehalten«, sagt Bernhard, »und gehofft, dass sie es langsam müde werden, mich zu fragen. Und Kompromisse habe ich gemacht. Über die können wir irgendwann einmal reden, aber nicht jetzt.«
    Wilhelm nickt, und vielleicht denkt er an seine Heimkehr mit den Russen und all

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