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Torstraße 1

Torstraße 1

Titel: Torstraße 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sybil Volks
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ihren Füßen. Eines der Mädchen trägt eine grasgrüne Badekappe, der Junge nur Shorts und Sandalen. Wie Terroristen sehen sie nicht aus.
    Die mit der Badekappe schüttelt sich, sodass Vicky einige Tropfen abbekommt. »Dank den Wasserspendern der Po-li-zei!«
    Die anderen beiden entrollen ein klatschnasses Transparent: »Stell dir vor, es ist Krieg, und keiner kriecht hin!« Der junge Mann schaut Vicky ernst an. »Sie sind doch auch gegen den Krieg, oder? Ich meine, in Ihrem Alter, Sie haben doch bestimmt …«
    »Absolut«, sagt Vicky, »in jeder Beziehung. Aber ich bin auch gegen Krieg auf der Straße. Gegen Steinewerfen.«
    Gerade, als der Junge zu einer Entgegnung ansetzt, ertöntwieder Geschrei, die Front scheint näher gerückt. Gruppen flüchtender Demonstranten rennen die Straße entlang, direkt vor ihrem Eingang schleppen zwei Menschen eine Frau in ihrer Mitte mit sich, der Blut übers Gesicht strömt.
    »Kein Stein«, sagt das Mädchen mit der Badekappe sachlich. »Schlagstock.«
    Im ersten Moment hat Vicky gedacht, die Frau, der das Blut in die Augen lief, sei Elsa, und ihr Herz hat einen Schlag ausgesetzt. Jetzt stürzt sie auf die Straße und läuft entgegen der Fluchtrichtung auf die Polizeikette zu.
    »Ihr habt wohl alle miteinander den Verstand verloren!« Fassungslos steht Elsa im Krankenzimmer vor dem Bett ihrer Mutter. In der gleichen Klinik, in der eine Etage höher Elsie liegt.
    »Wir waren doch heute Nachmittag hier verabredet«, murmelt Vicky. Der Verband über ihrem Ohr ist vom Jod orange verfärbt. »Wenn du nicht zu spät gekommen wärst …«
    Elsa lässt sich auf den Stuhl neben Vickys Bett fallen. »Wie bitte? Wärst du einfach an deinem Platz geblieben im KaDeWe, dann wäre überhaupt nichts passiert! Schlimm genug, dass Stephie bei diesem Irrsinn mitlaufen muss«, sie schnieft in ein zerfetztes Taschentuch, das weiße Fusseln in ihrem Gesicht hinterlässt, »aber was hattest du da zu suchen?«
    »Dich«, sagt Vicky. »Ich hab dich gesucht.« Sie nimmt Elsa das Taschentuch aus der Hand und reicht ihr ein frisches. »Wärst du zu mir gekommen wie verabredet, statt dich ins Getümmel zu stürzen …«
    Elsa springt auf. »Ich hab Stephie gesucht! Und nach der muss ich jetzt schauen. Die hat’s noch viel schlimmer erwischt als dich.«
    »Na und, die ist auch vierzig Jahre jünger. Und außerdem selber schuld.«
    Elsa geht im Gang der chirurgischen Abteilung auf undab. Stephanie wird noch verarztet, eine Platzwunde am Kopf muss genäht werden, es besteht der Verdacht auf eine Gehirnerschütterung, so viel hat sie herausgefunden, als sie endlich eine Schwester auf dem Gang zu fassen bekam. Die Ärzte in der Chirurgischen haben heute wieder alle Hände voll zu tun. Hunderte verletzte Demonstranten und ein paar Dutzend Polizisten sind mit Platz- und Schürfwunden, Kreislaufzusammenbrüchen und Schleimhautreizungen vom Tränengas in die Berliner Kliniken eingeliefert worden. Ein junger Mann taumelt aus dem Behandlungsraum, in Shorts und Sandalen, mit einem dicken Pflaster auf der Brust. Aus dem Zimmer nebenan wird eine Liege geschoben, darauf ein Mensch mit dickem Kopfverband. Erst auf den zweiten Blick erkennt Elsa, dass die Gestalt ihre Tochter sein muss.
    Vicky ist jetzt beinahe glücklich über ihre erste Verwundung bei einer Demonstration. Sie darf die Nacht über bei Elsie im Zimmer liegen – obwohl die bei den Krebspatienten stationiert ist. Aber Elsies Zimmernachbarinnen haben heute beide ihr Bett geräumt, die eine Richtung Heimat, die andere Richtung Friedhof. Sie wollte von Elsie wissen, wo welche Frau gelegen hat, damit sie nicht das Bett erwischt, in dem letzte Nacht jemand gestorben ist. Doch in das Bett der Verstorbenen ist Elsie am Mittag umgezogen. »Seit Wochen hab ich gewartet, dass die Alte den Fensterplatz räumt«, hat Elsie gesagt. »Wenn man hier eingesperrt ist und nicht weiß, ob man je wieder rauskommt … Ein Stück Himmel, Vicky, du ahnst nicht, was das für Abwechslung bietet.«
    Jetzt ist das Stück Himmel schwarz, nur vereinzelt schimmert ein Stern durch die Nacht, auf der Station ist es still bis auf das Summen der Nachtbeleuchtung. Nun liegen wir zwei Alten nebeneinander in unseren Betten, geht es Vicky durch den Kopf, wie manchmal vor dem Krieg, wenn eine von uns nachts nichtallein nach Hause laufen wollte durch die Straßenschlachten einer anderen Zeit.
    »Weißt du noch, wie Chaja einen Stein an den Kopf bekommen hat«, sagt sie leise, »damals am

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