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Torstraße 1

Torstraße 1

Titel: Torstraße 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sybil Volks
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Nägel in ihre Handflächen. Oder wenn Stephanie selbst einen Stein in ein Schaufenster wirft, in eine Scheibe dieses Hauses, in dem ihre Großmutter arbeitet? So, wie sie es schon einmal getan hat.
    Vicky hört nicht mehr, was der Rundfunksprecher erzählt, sie sieht wieder die im Schneematsch glitzernden Glassplitter, die gähnende Leere der Schaufenster, als sie im Januar morgens zur Arbeit kam. In der schwarzen Fensterfront war ihr jählings ein anderes Bild erschienen, Männer in Uniformen und Stiefeln, in geschlossener Reihe unter dem Plakat vor dem Tor.
    Mehr als zwanzig Scheiben wurden mit Steinen eingeworfen, allein im KaDeWe, nach einem Protestmarsch gegen das griechische Militärregime. Noch in der Nacht hat die Feuerwehr die gezackten Glasränder entfernt. Was das KaDeWe mit Griechenland zu tun hat, wollte sie von Stephanie wissen, als sie erfuhr, dass ihre Enkelin mitmarschiert war. »Besser ein Kaufhaus anzuzünden als eines zu besitzen«, hat diese statt einer Antwort zitiert. Sie zitierte viel in letzter Zeit. Und setzte noch etwas von Konsumtempeln und Großkapitalisten hinzu. Da war es ihr kalt den Rücken heruntergelaufen. »Deutsche, wehrt euch«, hat sie gesagt, »kauft nicht bei Juden!« Und hinzugefügt, als Stephanie sie sprachlos ansah: »Schaufenster einwerfen, schwarz-rot-goldene Fahnen verbrennen, das habt nicht ihr erfunden,ihr Schlaumeier und Weltverbesserer.« Bevor Stephanie ihr wieder mit einem Marx- oder Mao-Zitat kam, hat sie die Enkelin zum Abendessen eingeladen. »Deine Lieblingspizza und dazu Bier aus der Flasche, wenn’s sein muss. Aber nur in Verbindung mit einer Geschichtsstunde.« Sie wollte ihr vom Jonass erzählen, vom April ’33, als sie mit der strampelnden Elsa auf dem Arm vor den SA-Männern stand, vor dem geschlossenen Kaufhaustor, dem Plakat: »Wertheim – Tietz – Jonass: fett von deutschem Blut«. Von den zersplitterten Scheiben wollte sie erzählen, fünfeinhalb Jahre später, der gähnenden Leere der Schaufensterfront, den Scherben, die Grünbergs eigenhändig fortkehren mussten am Morgen danach. Von Gerd Helbig wollte sie sprechen, vom kleinen Klaus, den sie nie lieben konnte, und Werner, mit dem sie damals schwanger war. Von Heinrich und Alice Grünberg, von Carola, Gertrud und Harry. Ja, selbst von Harry wollte sie Stephanie erzählen, so aufgewühlt haben sie die klirrenden Scheiben. Vielleicht ist es einfacher mit Stephanie als mit Elsa, hat sie gedacht, vielleicht ist es einfach an der Zeit. Aber dann ist nichts geworden aus der Geschichtsstunde. Stephanie hat abgesagt. Irgendein Sit-in vor dem Amerikahaus.
    »… die Sicherheitskräfte gehen mit aller Entschiedenheit gegen die Demonstranten und Krawallmacher vor. Die Polizei hat Anweisung, die Demonstration aufzulösen. Passanten und Schaulustige werden aufgefordert, den Kurfürstendamm zwischen Tauentzienstraße und Wittenbergplatz unverzüglich zu verlassen!«
    Vicky springt auf, lässt das Radio laufen, eilt an der Kollegin vorbei, der sie Berichterstattung versprochen hat. Sie kann nicht länger hier sitzen, während vor der Tür ihre Tochter und ihre Enkelin in Gefahr sind!
    Beim ersten Schritt aus der kühlen Kaufhaushalle schlägt ihr die Hitze entgegen. Die Straße vor dem Kaufhaus ist abgesperrt und auf der einen Seite menschenleer. Knapp hundertMeter weiter auf der anderen Seite spielen sich zwischen Polizeisirenen, Lautsprecherdurchsagen und Geschrei tumultartige Szenen ab. Sie spürt nur den einen Wunsch, zu fliehen und sich in Sicherheit zu bringen. Doch die Sorge um Elsa und Stephanie treibt sie weiter auf das Getümmel zu. Je näher sie kommt, desto stärker mengen sich in die stechende Mittagshitze Schwaden aus Hass, Wut und Lust, Angstschweiß und Adrenalin. Nicht die gleiche Mischung wie während der Barrikadenkämpfe in den letzten Wochen des Krieges, und doch ist die Erinnerung plötzlich so nah, dass sie sich zitternd in einen Hauseingang flüchtet. Sie hatte gehofft, diesen Brodem nie mehr zu riechen in den Straßen Berlins.
    In die Ecke gedrückt, hört Vicky Rufe und die Schritte rennender Menschen. Zwei Mädchen und ein Junge flüchten sich in ihren Hauseingang. Zuerst schauen sie verblüfft, als sie der Oma in Rock und Bluse gegenüberstehen, dann lachen sie und legen die Zeigefinger an die Lippen.
    »Pssst! Wir wollten bloß ’ne Abkühlung!« Alle drei sind von Kopf bis Fuß triefnass, das Wasser läuft ihnen aus den Haaren, den Körper hinab, sammelt sich in Pfützen unter

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