Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Torstraße 1

Torstraße 1

Titel: Torstraße 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sybil Volks
Vom Netzwerk:
Bülowplatz? Elsa hat furchtbar geweint, als sie Oma Chaja mit dem Verband sah.«
    Es ist das erste Mal seit Jahrzehnten, dass der Name zwischen ihnen fällt. Nach Chajas Deportation war es ihr immer vorgekommen, als ob Elsie sie persönlich dafür verantwortlich machte. Vielleicht hat sie ja recht damit.
    »Nur dass Chaja zufällig in die Straßenschlacht geraten ist, während du dich wie ein altes Schlachtross in den Steinehagel geworfen hast.«
    »Kein Stein«, sagt Vicky beinahe stolz. »Schlagstock.«
    Elsies Bett steht zwei Meter von ihrem entfernt, sie hat einen Schlauch im Arm und muss auf dem Rücken liegen, obwohl sie nie auf dem Rücken schlafen konnte. Nach ein paar schlaflosen Nächten und bunten Pillen, da kann man, hat Elsie gesagt. Früher konnte sie so tief schlafen, man musste sie in den Luftschutzkeller schleppen bei Bombenalarm. Erst nach dem Krieg, da war es mit der nächtlichen Seelenruhe für Elsie vorbei.
    »Erzähl mir vom Kaufhaus«, sagt Elsie.
    »Welches jetzt«, will Vicky wissen, »das alte oder das neue? Kaufhaus Ost oder West?«
    »Wann lebst du endlich in der Gegenwart? Wo arbeiten wir beide denn seit ungefähr zwanzig Jahren?«
    Elsie hat recht, so alt ist sie noch gar nicht, aber in der Erinnerung läuft schon alles ineinander. Der Menschenansturm zur Eröffnung, die Reden und Sektfontänen, die Tabletts mit Schnittchen … Die Wiedereröffnung des zerstörten KaDeWe am Ku’damm, das war auch ein heißer Sommertag, muss 1950 gewesen sein. Zu Hunderttausenden waren die Kauflustigen herbeigestürmt, als ob sie jahrelang auf diesen Tag gewartet hätten. Als ob es sonst in der Stadt nichts zu kaufen gäbe. Tatsächlichwar immer noch vieles knapp, die Blockade lag noch nicht lange zurück, das konnte man sich heute kaum mehr vorstellen, wo alle Schaufenster vor bunten Waren überquellen. Zumindest im Westen. Aber damals waren Perlonstrümpfe und Ananas eine Sensation, Modenschauen und Künstlerauftritte, spanische Wochen in der Lebensmittelabteilung.
    »Zu dumm«, sagt Vicky in Richtung des Nachbarbettes, »dass die Angestellten nicht mehr im Liegestuhl auf der Dachterrasse Pause machen wie früher. Darum hast du sie bei Jonass immer beneidet, weißt du noch?«
    »Aber das Beste«, entgegnet Elsie, »war der Tag, als Josephine Baker kam.«
    Oh ja, die Baker im KaDeWe, das wird auch Vicky nie vergessen. Elsie und sie waren völlig aus dem Häuschen, als das Idol ihrer Jugendtage ins Kaufhaus kommen sollte, um ein Kinderbuch zu signieren.
    »Schade, dass sie nicht getanzt hat«, sagt Vicky. »Immerhin, ich hab ein Buch mit ihrem Autogramm. Das heißt, jetzt hat es Elsa, und die wird es Stephanie oder Jonas geben, wenn die selbst Kinder haben …«
    »Tja«, sagt Elsie, »und meins verstaubt im Bücherregal. Wer das wohl bekommt, wenn ich tot bin.«
    Vicky ist froh, als in dem Moment die Tür aufgeht und die Nachtschwester hereinkommt. Wie dumm von ihr, diese Bemerkung über Kinder und Enkelkinder – ein Schutzschild vor dem Tod, oder doch vor der Einsamkeit des Todes, ein zerbrechliches vielleicht, aber jedenfalls eines, das Elsie fehlt. Auch wenn sie die Operation gut überstanden hat, ist nicht sicher, ob ihr Leben gerettet ist. »Wir können nicht ausschließen, dass sich Metastasen gebildet haben«, hat der Oberarzt ihr mitgeteilt. Sie weiß nicht, ob er Elsie das Gleiche gesagt hat.
    Die Schwester überprüft die Infusionsflasche an Elsies Bett, wirft einen Blick auf die Pillendose. »Brauchen Sie noch etwas?«,fragt sie mit sanfter Stimme. »Es tut mir leid wegen Frau Friedrich, ich weiß, dass Sie sie mochten. Sie haben ihr sehr geholfen in den letzten Stunden.«
    Aha, denkt Vicky, so viel zur Alten, die endlich das Bett geräumt hat.
    »Schon gut«, brummt Elsie und wendet den Kopf zum Fenster. Nach weiteren Minuten an Elsies Bett geht die Schwester zur Tür, ohne Vicky zu beachten.
    »Hallo, Schwester«, ruft Vicky ihr nach, »eine Frage.«
    Unwillig kommt sie zurück. »Ja, bitte?«
    »Haben Sie schon mal einen Schlagstock an den Kopf bekommen?«
    Die Nachtschwester sieht sie entgeistert an. »Natürlich nicht.«
    Vicky deutet auf ihren Verband, der an der Wunde klebt, wo das Blut verkrustet ist. »Dann seien Sie froh, das tut nämlich ganz schön weh. Also, ich brauche eine Schmerztablette.«
    Als die Nachtschwester die Tür hinter sich geschlossen hat, denkt Vicky wieder an das Kaufhaus des Westens. Der Laden brummte – bis zum 14. August ’61. An diesem Montagmorgen fehlte

Weitere Kostenlose Bücher