Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Torstraße 1

Torstraße 1

Titel: Torstraße 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sybil Volks
Vom Netzwerk:
die mit ihrem Kind gemacht!
    »Stephie!« Elsa hört, wie ihre Stimme kippt, dabei wollte sie ruhig und gefasst sein. »Hast du Schmerzen?«
    »Nein.«
    »Aber du siehst furchtbar aus, was haben die Ärzte gesagt, bist du sicher, dass alles …«
    »Es geht nicht um mich!«, fährt Stephanie sie an. »Was sind schon ein paar Platzwunden, eine blöde Gehirnerschütterung gegen … gegen …« Sie fängt wieder an zu schluchzen. Das verschwollene Gesicht verschwindet im Kopfkissen.
    »Gegen?«, fragt Elsa. Da fährt eine Hand unter das Kopfkissen, zieht etwas heraus und hält es ihr unter die Nase. Elsa nimmt die Zeitschrift, die aufgeschlagene Seite ist durchweicht und leicht gewellt, doch die Fotos sind gut zu erkennen. Es sind Schwarz-Weiß-Bilder, dennoch sieht man das Fleisch in grellen Rosa- und Rottönen vor sich, in freigelegten Schichten, unterschiedlichen Verbrennungsgraden. Kaum vorstellbar, dass unter den Rippen, von denen man Haut und Fleisch geschnitten hat, noch Lungenflügel atmen, Herzen schlagen. Und doch sind es lebende Körper, aufgereiht auf schmalen Liegen, kleine Körper mit verbundenen Köpfen. Die Körper von Kindern. Elsas Blick fällt auf die Bildunterschrift. »Nur die Köpfe können wir nicht abschneiden.«
    Elsa schlägt die Seite zu, am liebsten würde sie die Zeitschrift aus dem Fenster werfen, verbrennen, wie die Napalmbomben die vietnamesischen Kinder verbrannt haben, sie hasst die Fotografen, hasst ihre Tochter, die ihr diese Bilder in den Kopf gepflanzt hat, die sie nun ihr Leben lang mit sich tragen wird. Doch ebenso plötzlich, wie sie aufgebrandet sind, fallen Hass und Wut in sich zusammen und weichen einem noch brennenderen Gefühl, das ihr heiße Tränen in die Augen treibt. Wieso hat sie davon nichts gewusst? Oder vielmehr, wie hat sie es geschafft, das, was an Fernsehbildern, Zeitungsberichten zu ihr durchgedrungen ist, so auszublenden in den letzten Jahren?Überlagert von den Ängsten und Ärgernissen um die Scheidung, die flügge werdenden Kinder, den Umzug, die Furcht vor dem Leben als Frau ohne Familie, ohne Beruf und eigenes Geld. Ihr kleines Leben mit seinen kleinen Sorgen. Während ihre Tochter für die gerechte Sache auf die Straße geht, sich grün und blau schlagen lässt und um fremde Kinder verzweifelte Tränen vergießt, zusammengerollt wie ein junger Igel.
    Erst als eine Hand nach ihr greift, eine leise Stimme »Mama?« sagt, wird ihr bewusst, dass sie selbst zu weinen begonnen hat. Sie genießt es, die warme Hand ihrer Tochter in ihrer zu spüren, genießt, dass der kleine Igel die Stacheln eingezogen und ihr die weiche Fellseite zugewandt hat, und kommt sich doch wie eine Betrügerin vor. Sie weint ja nicht wie Stephanie um die verbrannten vietnamesischen Kinder, weint nur um ihr eigenes Kind und um sich selbst, so genau weiß sie es nicht, vielleicht kommt es aufs selbe hinaus. Bei diesem Gedanken durchfährt sie jäher Schmerz, einen Augenblick nur, in dem sie ahnt, was eine Mutter fühlt, deren Kind mit freigelegten Rippen, ohne Haut auf der Bahre liegt. Schnell schaltet sie das Bild im Innern aus, der Schmerz verschwindet, nie könnte sie es ansehen wie Stephanie, bis es durchweicht und wellig wäre. Dennoch hat sie nun das Gefühl, dass es nicht nur Lüge ist, was sie mit ihrer Tochter verbindet. Behutsam drückt sie Stephanies Hand, und ihr Druck wird erwidert.
    Zu Hause nimmt Elsa Tassen und Gläser aus dem Küchenschrank und schlägt sie in Zeitungspapier ein. Langweilig ist das, und sie beginnt in der Zeitung zu lesen, die oben auf dem Stapel liegt. »Werktätige, darunter viele junge Menschen und Frauen, reichen Neuerervorschläge ein. Sie wollen mit ihren Ideen die Produktivität in den Betrieben steigern, die Selbstkosten senken, dafür sorgen, dass wertvolle Rohstoffe kostensparend eingesetzt werden und die Arbeitszeit voll ausgenutzt wird. Siealle sind Teil der Bewegung ›Sozialistisch arbeiten, lernen und leben‹.« Eine Ausgabe des Neuen Deutschland, die bei Vicky auf dem Tisch gelegen hat, nach einem Besuch von Wilhelm. Der darf ja rüber, seitdem er kein junger Werktätiger mehr ist und kein Neuerer, sondern als Rentner zum alten Eisen gehört, dessen Lagerung Kosten erzeugt. Die folgenden Zeilen überfliegt sie, »Neuererbewegung«, »Neuererkollektive«, »Schrittmacherkonferenz«, es geht immer so weiter in diesem Ton, der ihr, obschon Deutsch, wie eine Fremdsprache erscheint.
    Elsa knüllt die Zeitung zusammen und stopft sie in ein Glas.

Weitere Kostenlose Bücher