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Torstraße 1

Torstraße 1

Titel: Torstraße 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sybil Volks
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Ob er glaubt, was er da schreibt, ihr Bernhard, mit dem sie als Kind eine Indianergeheimsprache gesprochen hat? Damals haben sie sich noch verstanden, heute muss Elsa seine Worte erst übersetzen. Nicht nur seine Zeitungsartikel, auch so kostbare und seltene Dinge wie einen von Wilhelm herübergeschmuggelten Bernhardbrief. Der ist nicht in einem Altpapierstapel gelandet, sondern in ihrer Schatzkiste. Und in ihrem Kopf.
    »Karla nimmt vieles schwerer, als sie müsste«, hat Bernhard geschrieben; seine Frau ist depressiv, hat sie übersetzt, wie seine Mutter depressiv war. »Die Arbeit fürs ND und das Institut nimmt meine Tage und Kräfte ganz in Anspruch«, hat er geschrieben, »vor allem, seit ich an einer mehrbändigen Ausgabe zur Geschichte der Arbeiterbewegung mitwirke und an einer Zeitschrift, die vom Institut herausgegeben wird.« Bernhard vergräbt sich in Arbeit, hat sie übersetzt, sucht in der Geschichte Zuflucht vor der Gegenwart in seinem Land, seiner geteilten Stadt und seinem Zuhause. »Luise kümmert sich um den Haushalt und ihre Mutter, wie man es sich besser von einer Zwölfjährigen nicht wünschen könnte« – und wie man es einer Zwölfjährigen auch nicht wünschen möchte, hat sie gedacht, und dass Luise zu früh erwachsen sein muss, so wie Bernhard und seine Schwester Charlotte viel zu früh ohne Martha erwachsen sein mussten.
    »Wenn du mich sehen könntest, Elsa, wie ich jeden Morgen ins Institut laufe, mit meiner braunledernen Aktentasche unter dem Arm, randvoll mit Papieren, Zeitschriften, Büchern – und Butterbroten. Die Karla mir jeden Morgen schmiert und mit klein geschnittenen Äpfeln und Möhren in eine Plastikdose packt. Im Institut machen sie sich über mich lustig, in jeder Frühstückspause packe ich die Stullen aus, in jeder Frühstückspause machen sie die gleichen Witze, über die ich in jeder Frühstückspause auf die gleiche Weise lache. Aber Glück muss der Mensch haben, ein Kollege aus der Zeitschriftenredaktion kommt ebenfalls täglich mit vorgeschnittenem Obst und Gemüse und tauscht mit mir.«
    Als sie das gelesen hat, musste sie zuerst lachen, dann hat sie »ach, Bernhard« geseufzt und ist traurig geworden. Ach Bernhard, kannst du nur noch über dich selber lachen oder auch manchmal noch mit deiner stets traurigen Karla? Aber immerhin hast du noch eine Ehe und eine Familie, denkt sie nun, während sie ihr Lieblingsglas mit dem Sprung in der Hand dreht und wendet und nicht weiß, ob sie es wegwerfen oder mitnehmen soll. Dann zerknüllt sie den Brief von der Post, in dem ihr mitgeteilt wird, dass sie die Altersgrenze für eine Ausbildung zur Postbotin leider überschritten habe, stopft ihn in das Glas und wirft Glas samt Brief in den Müll.
    Heute Morgen ist sie ist durch die Straßen gegangen, am Bäcker vorbei zum Supermarkt, denselben Weg wie schon tausend Mal, und plötzlich hatte sie das Gefühl, sie könne unmöglich weggehen. Müsse die Kündigung rückgängig machen und den neuen Mietvertrag, allein in der viel zu großen Wohnung bleiben, die sie weder ausfüllen noch bezahlen kann. Alles erschien ihr auf einmal einfacher, als wegzugehen. Als hätte ihr Leben sich in den vergangenen fünfzehn Jahren mit so vielen Fasern an Straßenecken und Häuser geheftet, im Vorbeigehen um so viele Bäume und Bänke und Ampeln gewickelt, dass es zerreißen würde beim Versuch, all das zu verlassen.Vicky tritt auf den Balkon vor ihrer Küche und schaut in den tiefblauen Augusthimmel. Keine einzige Wolke in Sicht. Und damit kein einziger Regentropfen. Was gäbe man nicht um ein paar Tropfen bei dieser Hitze, die seit Wochen anhält, jeden Tag schwerer auf der Stadt liegt und ihren Bewohnern allmählich ins Gehirn zu brennen scheint. Anders kann sich Vicky Leos Ausbruch nicht erklären. Dabei hat sie ihn bloß gebeten, seine Schuhe aus dem Flur zu räumen, damit heute Abend der Besuch nicht darüber stolpert. Wenn alles, was in dieser Wohnung von ihm sei, im Weg stehe, bitte, er könne sich auch gleich selbst aus dem Weg räumen, dann hätten sie es bestimmt viel gemütlicher, drei Frauen unter sich, aber die Flaschen dürfe er vorher sicher noch herbeischleppen. Tür zugeworfen und aus dem Haus, ohne Mütze, hoffentlich holt er sich keinen Sonnenstich. Sie hat nichts erwidert vor Schreck, weil Leo doch sonst nie mit ihr streitet. Und das kurz vor ihrem Hochzeitstag!
    Alle waren überrascht, als sie angekündigt hat, ein zweites Mal zu heiraten. Sie selbst auch. Jahrelang ist

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