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Torstraße 1

Torstraße 1

Titel: Torstraße 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sybil Volks
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die Hälfte der Belegschaft, die meisten sahen sie niemals wieder. Viele Stammkunden blieben fort, erst im Nachhinein wusste man, dass sie aus dem Ostteil der Stadt gekommen waren. Am Anfang fehlten die Kunden aus dem Osten, doch dafür kamen immer mehr Touristen. Araber, Japaner und wer nicht alles. Ku’damm und Tauentzien wurden immer schicker. Auch Frau Roth, die Abteilungsleiterin der Herrenkonfektion, war von einem auf den anderen Tag verschwunden. Elsie trat Frau Roths Stelle an und holte Vicky als Einkäuferin in die Abteilung.
    »Wer weiß, vielleicht wären wir ohne Mauer noch immer Verkäuferinnen«, sagt Vicky. »Nein, du bestimmt nicht. Dir müsste der Laden längst gehören, wenn’s nach Fähigkeiten ginge auf der Welt.« Aber sie selbst wäre ohne Elsie vermutlich nicht mal mehr Verkäuferin. Welche andere Vorgesetzte hätte es jahrelanggedeckt, wenn sie nach der Mittagspause angetrunken zur Arbeit kam? Oder in den schlimmsten Zeiten schon morgens. Meistens merkten ihr Außenstehende nichts an, sie hatte sich trotz Alkohol gut unter Kontrolle. Oder vielleicht wegen des Alkohols? Dieser Gedanke war ihr noch nie gekommen. Wie auch immer, Elsie wusste Bescheid. Und Elsie hatte dafür gesorgt, dass sie auch in den schlechten Zeiten ihren Job behielt.
    »Wenn du nicht gut wärst, hätte ich dich nicht behalten«, sagt Elsie. »Du weißt, wie ich Leute hasse, die mir geschmackloses Zeug einkaufen, das dann wie Blei in den Regalen liegt. Oder an den Kleiderständern hängt. Selbst Männern kann man nicht alles aufschwatzen.« Nach einer Pause setzt sie hinzu: »Deine Kollektionen sind immer ein Renner. Das weißt du doch, oder? Dass du den Job hast, weil du gut darin bist?«
    Vicky antwortet nicht, braucht nicht zu antworten. Das ist das Schöne, wenn man so im Dunkeln daliegt, dass man weiß, wann eine Antwort gefragt ist und wann nicht. Warum musste Elsie erst Krebs kriegen und sie bei einer Demonstration zu Boden gehen, bevor sie wieder einmal in der Dunkelheit Worte und Schweigen tauschen konnten.
    »Willst du mal sehn?«, fragt Elsie plötzlich mit komischer Stimme.
    Vicky schreckt aus ihren Gedanken. »Was denn?«
    »Die Narbe.« Elsie schlägt die Decke zurück. »Ich wünschte, sie hätten die andere auch amputiert. Eine Brust ist schlimmer als keine.«
    »Nein.« Vicky hebt die Hände. »Nein, Elsie, bitte …«
    »Ach, stimmt«, sagt Elsie und deckt sich wieder zu. »Du kannst ja keine Narben sehen.«
    Da wird Vicky bewusst, was anders ist an Elsie, wo sie die ganze Zeit nicht hinschauen wollte, ohne dass sie es selbst gewusst hätte. Elsie hat die breiten Armbänder um die Handgelenke abgelegt.
    »Elsie«, flüstert Vicky, und auch ihre Stimme hört sich nun komisch an. »Ich werde es dir niemals vergessen, was du für Elsa getan hast.«
    Schon vor der Tür hört Elsa das Weinen. Vielleicht würde es niemand hören außer ihr, ein unterdrücktes Weinen, als ob jemand ins Kopfkissen heult. Aber es ist ihr Kind, das da weint, dasselbe Kind, dessen leisestes Schluchzen sie vor beinahe zwanzig Jahren aus dem Schlaf geschreckt hat, während sein Vater seelenruhig weiterschlief. Auch wenn dieses Kind jetzt kein Kind mehr ist, wird sie das Weinen immer sofort erkennen. Sie stößt die Tür des Krankenzimmers auf und steht vor dem Bett ihrer Tochter. Die Nachbarbetten sind leer, auch in diesem ist nur an der Wölbung der weißen Decke zu sehen, dass ein Mensch darin liegt, ein zarter, gekrümmter Mensch. Das Schluchzen, das unter der Bettdecke hervordringt, klingt verzweifelt, untröstlich, Elsa kann sich nicht erinnern, wann sie Stephanie zum letzten Mal so hat weinen hören. Ihre Kehle schnürt sich zusammen, behutsam legt sie eine Hand auf die Wölbung, unter der sie das Rückgrat ihrer Tochter fühlt, die vom Weinen geschüttelt wird. Das Weinen verstummt auf der Stelle, kein Laut kommt unter der Bettdecke hervor, nichts regt sich. Elsa muss an den jungen Igel denken, den sie nachts von der Straße holen wollte, an die stachlige kleine Kugel, in die er sich im Bruchteil einer Sekunde verwandelte, kein Millimeter weiches Fell war mehr zu sehen. Sie zieht die Hand zurück. Reglose Sekunden vergehen, bis die Decke mit einem Mal zurückgeworfen wird und ein Gesicht am Kopfende auftaucht. »Wieso klopfst du nicht an?!«
    Elsa hält den Atem an. Das Gesicht sieht zugerichtet aus. Blaue und gelbe Schwellungen, wo gestern Verbände waren, die Augen so zugeschwollen, dass sie kaum zu erkennen sind. Was haben

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