Torte mit Staebchen
verschiedenen Nationalitäten ging, war er sensibilisiert. Im Schutz der Dunkelheit ließ sie ihre Hand noch ein bisschen länger in der seinen liegen. Es fühlte sich gut an.
Rausgeschmissen
Schanghai, 1943 – Jahr der Ziege
羊
Inzwischen hatte im Tierkreis die friedliche Ziege die Regie übernommen, doch Inge hatte sich längst abgewöhnt, die Tiere des chinesischen Horoskops für die Ereignisse des jeweiligen Jahres verantwortlich zu machen. Das vermeintlich so harmlose Hasenjahr hatte den Krieg in Europa gebracht und ihr Jahr, das Drachenjahr, die ungeliebte Schule, im Zeichen der Schlange waren die Japaner angerückt, und das Pferdejahr hatte ihrem Leben alle möglichen Beschränkungen auferlegt. Aber dafür konnten die armen Tiere nichts; sie hatten, so wollte es die Legende, ja nur in genau dieser Reihenfolge dem Buddha ihre Aufwartung gemacht. Es war die Politik, die die Leute beutelte und drangsalierte. Und die wurde von Menschen gemacht.
Auch die Ziege hielt sich nicht an das Bild, das man sich von ihr machte. Eines Morgens fand Inge einen Zettel im Briefkasten:
Proklamation über Wohn- und Geschäftsbeschränkungen für staatenlose Flüchtlinge
Auf Grund militärischer Notwendigkeit wird hiermit der Platz für Wohnungen und Geschäfte der staatenlosenFlüchtlinge im Schanghaier Gebiet auf das nachstehende Gebiet in der Internationalen Niederlassung beschränkt.
staatenlosen Flüchtlinge, die gegenwärtig in einem anderen Distrikt als dem vorstehend angegebenen Gebiet ansässig sind und/oder Geschäfte betreiben, haben ihre Wohn- und Geschäftssitze bis zum 18. Mai 1943 in das vorstehend bezeichnete Gebiet zu verlegen. Für die Übertragung, den Verkauf, den Erwerb oder das Vermieten von Räumen, Häusern, Läden oder anderen Etablissements, die außerhalb des bezeichneten Gebiets gelegen sind und deren Inhaber oder Benutzer gegenwärtig staatenlose Flüchtlinge sind, ist eine Genehmigung der japanischen Behörden einzuholen.
Personen, die keine staatenlosen Flüchtlinge sind, dürfen nicht ohne Genehmigung der japanischen Behörden in das in Abschnitt I erwähnte Gebiet umziehen.
Personen, die diese Proklamation verletzen oder ihre Durchsetzung behindern, werden streng bestraft.
Oberbefehlshaber der Kaiserlich-Japanischen Armee im Gebiet Schanghai
Oberbefehlshaber der Kaiserlich-Japanischen Flotte im Gebiet Schanghai
18. Februar 1943
Inge überflog den Inhalt und wurde blass. Ein Blick auf die Karte zeigte ihr, dass der Zwangswohnbezirk, offiziell »Designated Area« genannt, genau jenen Teilvon Hongkou umfasste, in dem die »Heime« lagen und in dem sich bereits die meisten jüdischen Flüchtlinge angesiedelt hatten. Inge begriff sofort, was das bedeutete. Sie machte auf dem Absatz kehrt, rannte die enge Holzstiege wieder hinauf und platzte in das Dachzimmer, in dem Frau Finkelstein an ihrer Singer saß. Wegen der galoppierenden Geldentwertung, der Rationierung von Kleiderstoff und dem fehlenden Nachschub aus Übersee konnte sie sich vor Aufträgen kaum retten. Das Umändern und das Wenden zerschlissener Hemdkrägen und Manschetten war jetzt auch in den besseren Gegenden angesagt. Und das Geschäft mit den Büstenhaltern lief ebenfalls gut.
»Wir müssen nach Hongkou!«, rief sie der Mutter atemlos entgegen und hielt ihr den Zettel hin.
»Dann hat Willi also doch recht behalten mit seinen düsteren Prognosen«, sagte Frau Finkelstein, nachdem auch sie gelesen hatte. »Wir müssen es ihm schonend beibringen.«
Dabei wusste Inge sehr wohl, dass es ihre Mutter war, die dieser Schlag am härtesten traf. Inge sah sie noch vor sich, wie sie, das weiße Batisttüchlein an die Nase gepresst, vor gut vier Jahren zum ersten Mal durch die Straßen von Hongkou gegangen war. Doch auch Inge grauste es bei dem Gedanken an einen Umzug. Weniger vor dem Schmutz, der Armut und Enge, die in diesem Stadtteil herrschten, sondern weil sie das Hinterhaus des »Café Federal« inzwischen als ihr Zuhause betrachtete, und die Fiedlers als ihre erweiterte Familie. Und Laifu? Würde sie den mitnehmen können?
Am meisten schmerzte jedoch die Tatsache, dass in Zukunft kein Pfiff mehr genügen würde, um sich nach der Schule mit Sanmao zu verabreden. Inge merkte, wie sich ein Kloß in ihrem Hals bildete. Sie würde ihn furchtbar vermissen, diesen großen Bruder. Aber Brüder waren – das wusste sie noch von ihren Brandenburger Freundinnen – eher lästig. Das war Sanmao keineswegs, ganz im
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