Torte mit Staebchen
als evangelische Ehefrau eines Juden nicht ins Ghetto muss.«
»Von einem Ghetto kann hier keineswegs die Rede sein, meine Gnädigste. Es handelt sich lediglich um eine militärische Schutzmaßnahme unserer japanischen Verbündeten. Für Sie wäre das allerdings mit Unannehmlichkeiten verbunden, die wir Ihnen gern ersparen würden.«
»Und? Was schlagen Sie vor?«
»Wir raten Ihnen, sich von Ihrem Mann zu trennen. Die rechtlichen Schritte für eine Scheidung könnten wir Ihnen unter diesen Umständen wesentlich erleichtern.«
Inge klappte die Kinnlade runter, sie meinte sich verhört zu haben. Plötzlich war der Schiffsverkehr nicht mehr von Interesse. Was wollte der von ihrer Mutter? Einen Moment lang fehlen auch Marianne Finkelsteindie Worte, sie fing sich aber sofort wieder und funkelte den Mann hinter dem Schreibtisch böse an.
»Diesen Vorschlag haben mir bereits Ihre Kollegen von der Geheimen Staatspolizei in Berlin gemacht. Und jetzt raten Sie mal, junger Mann, warum ich in Schanghai bin?« Hier machte sie eine dramatische Pause. »Weil ich meinen Mann unter keinen Umständen verlasse, schon gar nicht wegen einer Ideologie wie der Ihren. Ich denke, damit ist unser Gespräch beendet.« Während sie ihm den letzten Satz hinschleuderte, war sie aufgesprungen und hatte Inges Hand gepackt. »Komm, Kind!«
»Ganz wie Sie meinen.«
Frau Finkelstein machte auf dem Absatz kehrt und rauschte mit einem verächtlichen »Einen schönen Tag noch« aus dem Büro. Inge, in ihrem Schlepptau, knallte mit Nachdruck die Tür hinter sich zu. Das war sie ihrem Vater schuldig.
Erst im Fußgängergetümmel auf dem Bund blieb Frau Finkelstein stehen. Mit hochrotem Kopf lehnte sie sich an eine Hausmauer, um Luft zu schöpfen. Sie zitterte, und in ihren graugrünen Augen standen Tränen. Inge ballte die Fäuste in den Taschen ihrer Jacke.
»Wie kann der dir so was vorschlagen?«, stieß sie empört hervor. »Und wie hast du das gemeint – schon zum zweiten Mal?«
»Ich kenne diese Burschen mittlerweile«, stieß die Mutter zwischen den Zähnen hervor. »Damals, als ich ihn aus Sachsenhausen rausholte, haben sie mir denselben Vorschlag gemacht. Aber das haben wir dir damals natürlich nicht erzählt.«
Inge wurden noch im Nachhinein die Knie weich bei dem Gedanken an das Damoklesschwert, das über ihrer kleinen Familie geschwebt hatte. Wo wäre sie heute, wenn ihre Mutter nicht so gehandelt hätte? Und bei wem? Jedenfalls nicht in Schanghai. Vor lauter Dankbarkeit und Erleichterung fiel Inge ihrer Mutter mitten auf dem Bund um den Hals, und beide begannen hemmungslos zu schluchzen. Einige chinesische Passanten, die solche Gefühlsausbrüche in der Öffentlichkeit nicht gewöhnt waren, blieben stehen und starrten die beiden Frauen neugierig an.
»
Was glotzt ihr? Kümmert euch um eure eigenen Angelegenheiten«,
zischte Inge ihnen zu. Jetzt war nicht der Moment für Völkerverständigung und Toleranz, jetzt wollte sie bloß in Ruhe gelassen werden. Auch die Mutter hatte sich mittlerweile wieder gefangen.
»Die Dreistigkeit von diesem jungen Schnösel war nun wirklich die Höhe«, schimpfte sie und ignorierte die Schaulustigen, die erschrocken weitergingen.
»Aber du hast ihm gut rausgegeben, Mama«, sagte Inge anerkennend. Wenn es drauf ankam, war ihre Mutter eine richtig starke Frau.
»Kein Wort davon zu deinem Vater, hörst du? Der wird uns sonst noch schwermütig. Macht sich sowieso schon Vorwürfe, weil wir wegen ihm in dieses grässliche Hongkou müssen.«
Inge nickte. »Klar.«
Schweigend liefen sie nebeneinanderher, jede in die eigenen Gedanken vertieft. Aus Nordost, von der Jangtse-Mündung und dem Meer, wehte ein erster lauer Frühlingswind über den Huangpu. Auf demFluss waren keine stolzen weißen Dampfer mehr unterwegs, dafür die kriegsgrauen Fregatten der Besatzer. Dazwischen schlängelten sich wie eh und je kleine Frachter, Lastkähne, Dschunken und Sampans. Inge blickte sich suchend nach ihrem Fährmann um und sah ihn auf der Flussmitte zwischen zwei großen Schiffen hindurchmanövrieren. Der Alltag auf dem Fluss ging trotz Krieg und Belagerung weiter.
Fast empfand Inge so etwas wie Neid für die Familien auf ihren schwimmenden »Drei Brettern«. Die konnte man nicht so einfach vertreiben, und wenn, dann fuhren sie eben woandershin. Der Fluss war groß und gehörte allen, auf ihm gab es keine Ghettos und »Zwangswohnbezirke«.
Sie ließ den Blick über die weite Flussbiegung und die prächtigen
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