Torte mit Staebchen
dir auch die Hälfte der Klasse?«, erkundigte sich Sanmao, als sie sich ein paar Wochen später im Hof trafen.
»Ne, wieso?«
»Das muss damit zusammenhängen, dass bei euch vor allem deutsche Kinder sind. Meine englischen und amerikanischen Klassenkameraden dürfen jetzt nicht mehr zum Unterricht kommen. Man munkelt, dass sie mit ihren Eltern in Lager gebracht werden, weil sie Feindmächte sind. Einige haben schnell ihre Koffer gepackt und sind abgereist.«
»Feinde von wem?«
»Von den Japanern natürlich, Entenkopf!«
»Aber für mich sind die Japaner auch Feinde.«
»Mag sein, dass du das so empfindest, weil du jetztSchanghaierin bist.« Inge hörte mit Genugtuung, dass Sanmao sie bereits eingemeindet hatte, doch dann fuhr er fort: »Aber offiziell sind sie die Verbündeten Deutschlands. Noch nie was von den Achsenmächten gehört? Das Deutsche Reich, Italien und Japan bilden eine ›Achse‹. Und weil sie alle Faschisten sind, haben sie sich die Welt untereinander aufgeteilt: Deutschland kriegt den europäischen Kontinent, Italien den Mittelmeerraum und Japan ganz Asien. Amerikaner und Briten wollen das natürlich nicht zulassen, deshalb sind sie jetzt ›Feindmächte‹, auch wenn sie ganz friedlich in Schanghai leben.«
»Wie schrecklich. Stell dir mal vor, du wachst morgens auf und bist der Feind.« Inge kannte das, ihr war das nämlich schon mal so ergangen. »Und was sind das für Lager?« Bei diesem Wort war ihr sofort der Schreck in die Glieder gefahren. Sie musste unbedingt rauskriegen, was es damit auf sich hatte.
»Zunächst müssen alle rote Armbinden mit dem Buchstaben ihres Heimatlandes tragen, später werden sie dann in Lagern am Stadtrand interniert.«
Rote Armbinden, gelbe Sterne, ein »J« im Pass … Inge kam das alles furchtbar bekannt vor. Hoffentlich kriegte ihr Vater nicht wieder Panik, wenn er das hörte. Sie musste mehr in Erfahrung bringen.
»Und du bist sicher, dass die Japaner bei den Deutschen keinen Unterschied zwischen Ariern und Juden machen?«
»Soweit ich weiß, nicht. Für sie ist das Judentum eine Religion wie jede andere, außerdem haben wir im Geschichtsunterricht gelernt, dass ein reicher Judeihnen Anfang des Jahrhunderts mal im Krieg gegen die Russen geholfen hat.«
»Dann müssen wir den Japanern ja am Ende noch dankbar sein«, sagte Inge und kaute nachdenklich auf ihrer Unterlippe.
Auch im »Café Federal« war die Veränderung der politischen Lage spürbar. Mit dem Ausbleiben der amerikanischen und britischen Stammgäste blieben viele Tische leer. Die Frau mit dem Äffchen kam schon länger nicht mehr; offenbar hatte sie die Stadt rechtzeitig verlassen. Ob Mr. Mills tatsächlich Jockey geworden war, hatte Inge nie in Erfahrung bringen können.
Dafür schallten jetzt häufig deutsche Stimmen durch den Gastraum. Seitdem die Deutschen Verbündete der Machthaber waren, glaubten einige von ihnen offenbar, sich wie jene Herrenmenschen aufführen zu müssen, als die ihre Ideologie sie sah. Doch Curt Fiedler ließ sich durch den anmaßenden Ton, mit dem sie ihre Bestellungen aufgaben, nicht aus der Ruhe bringen. Schließlich war er seit 1926 in der Stadt und servierte seinen Gästen Bienenstich und Apfelstrudel in stets gleichbleibender Höflichkeit und Qualität.
Letzteres wurde allerdings immer schwieriger. Da die Japaner offenbar auf einen längeren Krieg eingestellt waren, hatten sie einige Lebensmittel und Gebrauchsgüter rationiert. So waren Mehl und Zucker jetzt nur noch mit Bezugsscheinen erhältlich, deren Deputat niemals hinreichte, vor allem wenn manKonditor war. Wo sollte der Apfelstrudel jetzt seine knusprig-süße Kruste herbekommen? Ausländische Produkte gelangten wegen der Seeblockade überhaupt nicht mehr nach Schanghai, und selbst die Versorgung aus dem chinesischen Hinterland gestaltete sich mit dem weiteren Vorrücken der Japaner zunehmend schwierig. Da musste man eben improvisieren. Herrn Fiedlers berühmte Nusshörnchen wurden jetzt mit Erdnussbutter gefüllt, die mithilfe einer kurbelbetriebenen Maschine selbst hergestellt wurde. Dem Konditormeister Finkelstein ging das sehr gegen die Berufsehre, aber was half es?
Sein Unbehagen betraf nicht allein die »Ersatz«-Produkte, die er in der Backstube herstellen musste. Abends saß er über den »Shanghai Jewish Chronicle« gebeugt, eine trotz ihres englischen Namens weitgehend deutsche Emigrantenzeitung, und wurde dabei immer schweigsamer. Frau und Tochter spürten, wie sehr ihn die
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