Torte mit Staebchen
Fassaden des Bund schweifen. Was ihr bei der Ankunft vor mehr als vier Jahren so befremdlich erschienen war, löste jetzt ein warmes Gefühl von Stolz in ihr aus. Das war ihre Stadt. Der bevorstehende Umzug machte ihr schlagartig bewusst, wie wohl sie sich hier mittlerweile fühlte; nicht unbedingt in Hongkou, aber in der Bubbling Well Road, in ihrem Viertel mit seinen vielen Läden und Märkten, Cafés und Geschäften. Torte mit Stäbchen – schoss es ihr plötzlich durch den Kopf. Dieses sonderbare Bild brachte die Mischung aus chinesischem und westlichem Lebensstil auf den Punkt, der den Reiz ihres neuen Lebens ausmachte. Sie dachte an Ina und wie sie in Brandenburg zusammen geübt hatten, den väterlichen Sandkuchen mit Stäbchen zu essen. Damals hatte die Freundin sie trösten und ihr Schanghai imwahrsten Sinne des Wortes schmackhaft machen wollen. Der Gedanke amüsierte sie, und sie musste lächeln. Das war Ina gelungen. Inge war in der Stadt, in die das Schicksal sie geschickt hatte, angekommen, sie fühlte sich zu Hause in deren farbiger, internationaler Lebensart, in der chinesischen Sprache und ihrer schönen, rätselhaften Schrift. Und sie hatte hier Freunde gefunden.
Wie es umgekehrt wohl ihrer chinesischen Freundin in Brandenburg erging? Der kleinen Chinesin mitten im großen deutschen Krieg.
***
Dem Vater erzählten sie, dass es sich um eine Passangelegenheit gehandelt habe. Inge würde nach der Umsiedelung nach Hongkou ihren eigenen Pass brauchen, um sich jederzeit ausweisen zu können, wie es die neue Besatzungsmacht verlangte.
»Das ist eine Notlüge, Inge«, hatte die Mutter ihr gesagt, »und Notlügen sind erlaubt.« Und außerdem war es nur ein bisschen gelogen; es gab diese Bestimmung nämlich tatsächlich.
Zwei Monate hatten sie noch Zeit bis zum Vollzug der Zwangsumsiedelung im Mai. In dieser Zeit wurde oft das »Mensch-ärgere-dich-nicht!« bemüht, weil es so viel zu bereden und entscheiden gab. Zunächst natürlich die Frage: Gleich oder lieber später?
»Ich finde, wir sollten schon jetzt mit der Wohnungssuche beginnen«, meinte der Vater, den jede behördliche Zwangsmaßnahme verständlicherweisein Panik versetzte. Außerdem kannte er die geringe Schmutztoleranz seiner Frau, gewisse Bedingungen mussten also erfüllt sein. »Wenn wir schnell umziehen, haben wir bessere Chancen, eine einigermaßen akzeptable Bleibe zu finden. Ihr wisst ja, wie überfüllt Hongkou jetzt schon ist. Und wenn alle Staatenlosen in diesen winzigen Bezirk gepfercht werden, wird es eine gnadenlose Konkurrenz um den Wohnraum geben.«
»Aber wer weiß, wie es nach dem Umzug mit deiner Arbeit aussieht«, gab Frau Finkelstein zu bedenken. »Ist es da nicht vernünftiger, so lange wie möglich bei Herrn Fiedler zu bleiben? Außerdem habe ich momentan so viele Aufträge. Das sollten wir ausnutzen, vielleicht können wir uns dann was Besseres leisten.«
Inge, die sich in Hongkou auskannte, bezweifelte, ob die dortigen Unterkünfte den Vorstellungen ihrer Mutter von »was Besserem« entsprachen, aber wozu »Mütter scheu machen«, wenn’s noch gar nicht so weit war? Dennoch stimmte sie ihrer Mutter von Herzen zu, allerdings aus ganz anderen Gründen.
»Und was meist du?«, fragte der Vater die Tochter, die sich bisher der Stimme enthalten hatte. »Sollen wir unsere Männchen so rasch wie möglich ins Depot bringen oder noch ein paar Runden würfeln und unser Glück versuchen? Immerhin hast du einen kürzeren Schulweg, wenn wir in Hongkou wohnen.«
»Da macht euch mal keine Sorgen«, wehrte Inge ab. Die Schule hätte ihr gleichgültiger nicht sein können. Sie dachte vielmehr an die Kungfu-Stunden mit Sanmao, an die Schreibübungen mit Frühlingserwachenund an ihre guten
guānxi
in der Markthalle; die würde sie anderswo erst wieder aufbauen müssen. Jeder Tag, den sie länger in der Bubbling Well Road blieben, war ihr kostbar.
Schließlich konnten die Finkelsteins die Wohnungssuche nicht länger aufschieben. Viel Auswahl hatten sie nicht. Um den begrenzten Wohnraum in der rund 260 Hektar umfassenden »Designated Area« konkurrierten Tausende von Emigranten und Chinesen, Letztere meist Flüchtlinge aus dem Landesinneren. An vielen der einstöckigen Backstein-Reihenhäuser hingen Schilder »
Zu vermieten
«; wer das Glück hatte, hier Wohneigentum zu besitzen, nutzte seinen Vorteil jetzt schamlos aus. Da war Verhandlungsgeschick gefragt, und über das verfügte nur Inge. Wie beim ersten Mal zog sie mit
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