Torte mit Staebchen
also nicht mit ihm ausprobieren, was sie dem wahren Objekt ihrer Zuneigung erst mühsam würde beibiegen müssen?
Die Trauer um Laifu, die Ungewissheit mit Sanmao und die große Erleichterung dieses Abends mischten sich zu einem ungekannten Wehmutsglück. Inge fühlte sich innerlich weich werden, sie schmolz Max entgegen.Und der fing sie auf, die Arme schützend hinter ihrem Rücken verschränkt, hielt er sie fest. So wiegten sich die beiden, eng aneinandergeschmiegt, zu einem leisen Saxophonsolo.
Als sie an den Tisch zurückkamen, hatte der Kellner, offenbar auf ein Zeichen von Max hin, die leeren Gläser gegen volle getauscht. Ihre Tischnachbarn waren gegangen.
»Was meinst du, wird jetzt wohl passieren?«, fragte Inge.
»Mit uns?« Max sah sie hoffnungsvoll an.
»Nein, mit der Politik.«
»Ach, Inge. Warum kannst du nicht ein bisschen romantischer sein?«, lachte Max gutmütig. Doch dann ging er mit ungebremster Begeisterung auf ihre Frage ein. »Die Amerikaner werden hier auftauchen und dann die chinesischen Nationalisten, vielleicht auch in umgekehrter Reihenfolge. Jedenfalls werden sie Wang Jingwei und seine Marionettenregierung zum Teufel jagen. Und wir sind freie Menschen. Ich sehe da ganz neue Möglichkeiten, vor allem in Beziehung auf die Amerikaner.«
»Du immer mit deinen Beziehungen.«
»Gib zu, dass sie nützlich waren.«
»Schon, aber willst du denn nicht weg?«
»Wieso denn? Jetzt wo’s hier spannend wird? Ich meine, geschäftlich gesehen.«
Inge merkte plötzlich, wie unendlich erleichtert sie war über diese Antwort. Hier sprach jemand aus, was auch sie fühlte, sich aber bisher nicht eingestanden hatte. Ihren Eltern hingegen merkte sie an, dass sieimmer nervöser wurden und auf eine Abreise hinfieberten. Bald würde die Sackgasse der Weltgeschichte, von der ihr Vater gesprochen hatte, sich öffnen. Aber wohin? Demnächst würde dieses Thema auch bei den Finkelsteins zur Sprache kommen. Da musste man sich vorher schon mal Gedanken gemacht haben.
Inzwischen waren die Gläser leer, und auch der Dachgarten leerte sich. Die »Drei H« zeigten berechtigte Ermüdungserscheinungen. Inge fühlte sich schon ganz schwummerig vom vielen Bier. Wie herrlich es war, diese feuchtwarme Sommernacht draußen zu verbringen! Auch der schwarze Verdunklungsstoff des Himmels wies Löcher auf und war von unzähligen Sternen übersät. Im Westen lag eine schmale Mondsichel gemütlich auf dem Rücken. Kein Suchscheinwerfer störte ihren Frieden.
Auf Max gestützt stakste Inge die Treppe hinunter. Es war gut, jemanden zum Festhalten zu haben. Draussen zündete sich Max sofort eine Zigarette Marke Eigenbau an. Auch das Rauchen in der Öffentlichkeit war unter den Japanern verboten gewesen. Genüsslich nahm er einen tiefen Zug. Die Straßenbeleuchtung funktionierte noch nicht, aber das war Inge gerade recht. Wäre es nach ihr gegangen, hätte der Heimweg gern auch länger sein können. Viel zu schnell standen sie vor dem kleinen Reihenhäuschen in der Lane, in der längst alles dunkel war. Max hielt sie an den Schultern und sah ihr direkt in die Augen.
»Einen Gutenachtkuss für den braven Max?«
»Einen Gutenachtkuss für den braven Max«, willigte Inge ein, nicht ohne ihn vorher in den nochdunkleren Hausgang zu ziehen. Dann ließ sie sich ein wenig nach vorne kippen. Alles Weitere überließ sie Max, der kannte sich aus.
Als sie auf Zehenspitzen das Zimmer betrat, sah sie ihre Eltern eng umschlungen auf dem Ausziehbett liegen, das sie auf Zehenspitzen umrundete, um in ihren Erker zu gelangen. Ein Blick auf Vaters Wecker zeigte ihr, dass es zwei Uhr war. Offenbar hatte bei den Finkelsteins jeder auf seine Weise die Nacht der Freiheit gefeiert, und sie war nicht vermisst worden. Erleichtert schlüpfte Inge in ihr Bett, das heute partout nicht stillstehen wollte, sondern mit ihr durchs Zimmer zu fahren schien. Ihr letzter Gedanke, bevor sie die Kurve in den Schlaf nahm, galt Sanmao. Wie er diesen Abend wohl verbracht hatte?
Deplatziert
Schanghai, 1945 – Jahr des Hahns
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Am 15. August war es dann amtlich. Wer ein Kurzwellenradio besaß – und es jetzt auch wieder offiziell benutzen durfte –, konnte dem japanischen Kaiser lauschen, der sich zum ersten Mal direkt an seine »guten und loyalen Untertanen« wandte und mit stockender Stimme die Kapitulationserklärung verlas. Tags darauf wurde sie auf Japanisch, Chinesisch und Englisch im Schanghaier Lokalsender wiederholt: »Die
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