Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Torte mit Staebchen

Torte mit Staebchen

Titel: Torte mit Staebchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Hornfeck
Vom Netzwerk:
Zuhause.
    ***
    In Hongkou drängten sich die Menschen um die Listen von Überlebenden aus den befreiten Konzentrationslagern, die das Internationale Rote Kreuz ausgehängt hatte. In banger Hoffnung suchten sie nach den Namen ihrer Lieben. Je mehr über das Schicksalder Juden in Deutschland bekannt wurde, desto mehr wuchs das Grauen über das Ausmaß der Vernichtung. Viele Emigranten konnten erst jetzt wirklich ermessen, welcher Glücksfall dieser Ort, den sie sich nicht ausgesucht und den sie oft genug gehasst hatten, für sie bedeutete. Was waren die Leiden und Unannehmlichkeiten der vergangenen Jahre, verglichen mit dem Unfasslichen, das in Deutschland geschehen war?
    Inge hatte es immer bedauert, so wenig Verwandtschaft zu haben, und hätte sich, wo sie schon keine Geschwister hatte, eine Schar munterer Cousins und Cousinen gewünscht. Auch Großeltern hatten in ihrem Leben nie eine Rolle gespielt. Jetzt war sie beinahe froh darüber. Immer wieder drängten sich ihr die Bilder aus der Wochenschau ins Bewusstsein, und sie sah die stumme Verzweiflung derjenigen, die ihre Angehörigen auf den Listen nicht fanden. Mit dem Vater hatte sie über das, was sie gesehen hatte, nicht gesprochen; inzwischen verstand und respektierte sie seine Weigerung, über diese Dinge zu reden. Sie waren einfach zu schrecklich.
    Auch über den Verlust ihres Katers hörte niemand mehr sie klagen, obwohl sie Laifu nach wie vor schmerzlich vermisste. Es wäre einfach nicht in Ordnung gewesen angesichts der Verluste, die andere zu tragen hatten. Inge legte sich das so zurecht: Laifu war   – wie sein Name es verhieß   – in einem Moment zu ihr gekommen, wo sie ihn dringend gebraucht hatte, und aus ihrem Leben verschwunden, als dieses sich grundlegend zu verändern begann. Vielleichtführte er ja jetzt anderswo ein zufriedenes Katerleben und brachte anderen Glück, die es nötiger brauchten. Seine Mission bei Inge war erfüllt.
    ***
    »Wir müssen dringend Familienrat halten«, verkündete Wilhelm Finkelstein, als er eines Abends von der Arbeit heimkam. »Heute war ein Vertreter der UNRRA im Café. Das ist die United Nations Relief and Rehabilitation Agency, die sich um die Rückführung oder Umsiedelung der Flüchtlinge kümmert. Alle staatenlosen Flüchtlinge sollen zu Interviews in deren Büro kommen. Ich nehme an, sie wollen herausfinden, was wir vorhaben.«
    Seine Frau legte ihre Flickarbeit aus der Hand. Auch Inge, die mit einem Buch im Erker saß, war sofort hellhörig geworden. Hier ging es um die Zukunft, um ihre Zukunft. Und was haben wir vor?, schoss es ihr durch den Kopf. Und wer ist wir?
    Inge fühlte, wie sich ihr vor Aufregung der Hals zuschnürte. Im Gegensatz zum Aufbruch aus Brandenburg gab es jetzt Optionen, und Inge wollte sie nutzen. Sie war jetzt achtzehn und hatte, so fand sie, das Recht auf eine eigene Meinung. Und die hatte sie sich in den letzten Tagen und Wochen in ihrem Kopf oder Bauch   – oder wo sonst die entsprechende Instanz saß   – gebildet.
    »Ich gelte ab jetzt als ›displaced person‹, als heimatloser Ausländer«, erklärte der Vater, als alle um den Tisch saßen, diesmal ohne das »Mensch-ärgeredich-nicht!«.Inzwischen brauchten sie die Spielfiguren nicht mehr, um das eigene Schicksal in die Hand zu nehmen.
    »Als solcher kann ich mit meiner Familie ein Visum für die USA, Kanada oder Australien beantragen. Aber es gibt Quoten. Ich weiß noch nicht genau, wie das funktioniert. Jedenfalls scheinen diese Länder ihre Lektion gelernt zu haben.«
    »Zu spät, wenn du mich fragst.« Diese Bemerkung kam von Inge, die natürlich keiner gefragt hatte. Der Vater sah seine Tochter erstaunt an. Woher kam dieser scharfe Ton? Wie viel wusste das Kind? War die Person, die ihm forschend ins Gesicht sah, überhaupt noch ein Kind? Im Überlebenskampf der vergangenen Jahre hatte er völlig übersehen, wie rasch seine Tochter erwachsen geworden war. Ihm gegenüber saß kein kleines Mädchen mit Zöpfen, sondern eine junge Frau mit klaren Gesichtszügen, entschlossenem Mund und kritischen blauen Augen, die gelernt hatte, in dieser Stadt ihre eigenen Wege zu gehen. Besser als er selbst, das musste er zugestehen.
    »Aber ich«, fuhr diese junge Frau jetzt mit Entschiedenheit fort, »bin keine Person am falschen Ort, ich bin genau richtig hier.«
    »Inge!« Zum ersten Mal mischte sich Frau Finkelstein in den Schlagabtausch ein. Hilflos blickte sie von einem zum anderen.
    »Für euch ist das hier doch nach wie vor

Weitere Kostenlose Bücher