Torte mit Staebchen
lassen. Mit blutiger Nase ist er nach Hause gehumpelt. So einen will ich nicht auf dem Gewissen haben, nicht jetzt, wo’s endlich wieder aufwärtsgeht. Komm, Inge, lass uns einen trinken gehen. Heute machen die Kneipen nicht so schnell dicht.«
Inge hatte jedes Zeitgefühl verloren. War es nicht schon furchtbar spät? Aber heute war alles egal, heute war Ausnahmezustand, das würden auch die Elternverstehen. Sie war lange genug gegängelt worden: vom deutschen Rassenwahn, vom Terror der Japaner, von amerikanischen Luftangriffen, von der elterlichen Fürsorge. Irgendwann musste die Freiheit endlich beginnen! Warum nicht gleich heute?
»Also gut.«
»Ins ›Roof Garden‹?« Statt einer Antwort hakte sie sich bei ihm unter, und er dirigierte sie durch die Menge in Richtung Broadway.
Natürlich waren sie nicht die Einzigen, die diese gute Idee gehabt hatten. Der Dachgarten war voll fröhlicher Menschen, die »Drei H« schienen Überstunden zu machen, auf der Tanzfläche drängten sich die Paare. Max und Inge fanden mit Mühe noch zwei freie Plätze.
»Heute kommst du mir nicht mit einem Obi davon«, erklärte Max entschieden und bestellte zwei Berliner Weiße mit Schuss, als der Kellner kam.
Inge protestierte nicht. Irgendwann war immer das erste Mal. Sie fragte sich bloß, woher er das Geld dafür nahm. Auch Max’ Geschäfte waren in letzter Zeit eingebrochen. Er hatte auf Zigaretten umgesattelt, die er einzeln drehte, und zwar mit einem selbst konstruierten Maschinchen, das aus einer alten Konservendose mit Kurbel bestand. Den Tabak dazu pulte er aus alten Kippen.
»Auf die alten Zeiten«, prostete Inge ihm zu, als der Kellner die bauchigen Gläser brachte. Der Schuss Himbeersirup ließ das Bier in schrillem Rosa aufleuchten.
»Und auf die neuen!«, hielt Max dagegen. SeineAugen strahlten angesichts der unbegrenzten unternehmerischen Möglichkeiten, die sich jetzt auftaten.
Inge durchzuckte ein unangenehmer Gedanke.
»Brauchst du das Rad zurück?«
»Kein Problem, Inge. Das geht klar.« Max winkte mit großzügiger Geste ab. »Vielleicht schaff ich mir bald was Besseres an.«
»Meinst du denn, es ist abgegolten?«, fragte Inge unsicher nach. Sie würde nur ungern ihre Mobilität verlieren, wollte aber auch nichts schuldig bleiben.
»Mach dir keine Gedanken, du hast genug Leberwurst ausgefahren«, beruhigte er sie.
Das war nun wirklich großzügig. Inge hob dankbar ihr Glas.
»Prost, Max, du bist schwer in Ordnung.«
»Du auch, Inge. Das hab ich schon auf dem Schiff gemerkt.« Er sah sie lange aus treuherzigen graugrünen Augen an. Den sprießenden roten Bartwuchs hatte er zu einem modischen Schnauzer getrimmt, um seinen Mund spielte ein kennerhaftes Lächeln. »Und seit die Zöpfe ab sind, siehst du richtig fesch aus. Wollen wir ’ne Runde tanzen?« Er legte den Kopf schief und sah sie aufmunternd an.
»Kann ich nicht. Noch nie gemacht.«
»Das kann jeder, bei so vielen Leuten tritt man eh bloß auf der Stelle. Lass dich einfach führen.«
Max legte ihr die Hände auf die Schultern und schob sie vor sich her auf die Tanzfläche. Inge bedauerte jetzt, dass sie in diesem ausgeblichenen, angestückelten und überhaupt völlig lächerlichen Blümchenkleid, das sie eigentlich nur noch zu Hause trug, losgeranntwar. Wer hatte auch ahnen können, dass ausgerechnet heute der Krieg zu Ende ging. Entschlossen fasste Max sie mit einer Hand um die Taille, die andere legte er ihr in den Nacken, dann schaukelte er sie zu den Klängen des Swing mitten hinein in die hüpfende, zuckende Menge. Bald wurde das Gewühl so dicht, dass sie eng aneinandergedrückt wurden. Die Combo wechselte in einen langsamen Foxtrott. Max zog sie an sich. Sie gab dem sanften Druck seiner Hand an ihrem Nacken nach und legte den Kopf an seine Brust. Es tat gut, die Verantwortung – auch die für sich selbst – an jemand anderen abzugeben. Sie roch den Schweiß, den das Adrenalin der Schlägerei in ihm freigesetzt hatte. Es war ihr nicht unangenehm.
Max, einen guten Kopf größer als sie, hatte das Gesicht in ihren blonden Schopf vergraben. Inge wusste genau, dass er eigentlich nicht derjenige war, mit dem sie das erleben wollte, trotzdem genoss sie, was sie da erlebte. Max war die längste gleichaltrige Bekanntschaft ihres jungen Lebens. Max teilte das Schicksal des Schanghaier Exils, und er war auf demselben Weg wie sie hierhergekommen. Er hatte auf seine Weise versucht, das Beste daraus zu machen. Max wusste Bescheid. Warum
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